Revolutionsrutsche

■ Schiefes Leben, schiefe Bühne: „Kabale und Liebe“ im Stadttheater Bremerhaven

Es gibt Bilder, die schlagartig erhellen, worum es geht. Sie werden zu Chiffren einer ganzen Inszenierung. Die gefährlich schiefe Ebene, auf der Holger Schultze Schillers „Kabale und Liebe“ ansiedelt, verrät schon vor Beginn des Spiels, was uns erwartet: Da stehen im Dämmerlicht im leeren Raum nichts als drei Türen (und ein oder zwei Stühle). Nach vorn geneigt, wirken sie, als könnten sie jederzeit ins Rutschen kommen (und tatsächlich werden sie von Szene zu Szene umgestellt). Aber ins Rutschen kommt bei Holger Schultze (und seiner Bühnenbildnerin Pia Maria Mackert) nicht nur die höfische Intrigenwelt, die der 23-jährige Schiller geißelt, ins Rutschen kommt das brave Haus des kleinbürgerlichen Stadtmusikanten Miller, das große Gefühl der beiden Liebenden Luise und Ferdinand und das fesselnsprengende, hitzige Sturm und Drang-Pathos.

Nein, bei Holger Schultze gibt es keine Sicherheiten mehr, auch keinen rettenden Gott (oder Dämon) der Liebe, und wenn am Schluß die beiden Sterbenden auf ihre schrecklichen Väter warten, blicken sie durch türlose Rahmen ins Schwarze und warten (vielleicht) vergeblich. Auf dieses endlos lang ausgespielte Schlußbild, auf diese Verwandlung von Schiller in Beckett zielt Holger Schultzes äußerst nüchterne, streng stilisierte Inszenierung, die ihre Schwächen und Fragezeichen gar nicht verbergen will und die das Publikum mit Sicherheit spalten wird.

Denn Luise Miller, die 16-jährige Bürgerstochter, und Ferdinand, der Sohn des am Fürstenhof tätigen Präsidenten von Walter, sind keine Figuren des 18. Jahrhunderts: Wenn Ferdinand in Millers Haus stürmt, rasen die beiden wie zwei Wilde umeinander, stürzen zu Boden, und Ferdinand legt sich mit deutlichen Bewegungen zwischen ihre Beine. Seine Luise ist kein jungfräuliches Mädchen, die Schiller sagen läßt: „Ich bringe nichts mit als meine Unschuld“. Sie ist eine selbstbewußte, junge Frau, die weiß, was sie will, die ihr erotisches Begehren nicht verbirgt (die roten Schuhe sind ein allzu deutliches Zeichen), und die sogar bereit ist, vor dem widerlichen Oberintriganten Wurm ihre Hüllen fallenzulassen, wenn sie damit nur den Vater aus dem Gefängnis retten kann. (Bei Schiller würde Luise für ihren Vater zwar sterben, aber niemals sündigen). Und Ferdinand? Sein glühendes Pathos klingt vor allem hohl, seine Rebellion ist hochgespreizte und selbstgefällige Pose. Holger Schulze läßt Wolfram Rupperti über weite Strecken chargieren, Ferdinand ist fast nichts anderes mehr als bloße Karikatur.

Aber nur fast: Um diese Differenz geht es. Denn obwohl Holger Schultze alles tut, um die peinlich (?) großen Gefühle zurückzunehmen, wird doch sichtbar, daß sich hier zwei Liebende vergeblich gegen eine konventionell erstarrte Gesellschaft auflehnen, und der schöne Schmerz, dem die Bilder sich – fast – verweigern, zieht über die leitmotivisch gesetzte Zwischenmusik von Franz Schubert wieder in die Szene ein.

Kabale und Liebe 1995: Das funktioniert nur noch ironisch gebrochen, die Leidenschaft wird parodisch auf Distanz gehalten, kein Sturm und Drang, keine große Vision, am Ende gibt es weder Versöhnung noch Krieg. Daß Ferdinand und Luise mittels Gift aus der Welt flüchten, kann nicht mehr unter die Haut gehen. Es ist eher komisch als tragisch (wie Ferdinands Verrenkungen mit der Giftflasche anzeigen). Schließlich zieht Ferdinand seine tote Geliebte auf einen Stuhl und setzt sich neben sie. Sterbend wartet er darauf, daß jemand kommen möge. Holger Schultze hat Schillers letzte Worte gestrichen. Niemand kommt. Hinter den drei leeren Türrahmen ist alles schwarz. Ferdinand stirbt vergeblich. Ein schreckliches Bild, ein Genie-Streich. Kein heftiger, aber langer Beifall und viele Bravos.

Weitere Aufführungen: 28.9., 4.10., 13.10., 22. 10. im Großen Haus des Stadttheaters

Hans Happel