■ Das Studium soll auch Spaß machen und der Anhebung der Allgemeinbildung dienen, was Elite ist, definiert sich über Leistung und nicht über den Geldbeutel, die Forschung muß stärker interdisziplinär betrieben werden – Dieter Simon, ehemaliger Vorsitzender des Wissenschaftsrates, schlägt eine Reform der Hochschulen vor, zu der den zuständigen Bildungspolitikern schon seit längerem der Mut fehlt: „Eine Nation, die Bankrott machen will“
taz: Herr Simon, ist die Hochschulpolitik Deutschlands kurz vor dem Bankrott?
Dieter Simon: Es gibt überhaupt keine Hochschulpolitik. Sie ist nicht existent. Obwohl sich eigentlich doch alle einig sind, daß Bildung nötig ist. Es heißt doch immer so schön: Wir hätten keine Ressourcen außer unseren Köpfen. Deshalb müßte eigentlich in Bildung investiert werden. Aber die Prioritäten werden seit Jahren einfach anders gesetzt. Da wir nach wie vor eines der reichsten Länder der Welt sind, ist es einfach absurd und lächerlich, so zu tun, als wäre die Krise des Staatshaushalts, die ich gar nicht bestreite, ausreichend dafür, daß die Bildungspolitik vollständig vernachlässigt wird.
Bildungspolitik findet also nicht statt.
Sie ist eine Luxusveranstaltung, die die Politiker auf den Sankt- Nimmerleins-Tag verschoben haben. Und zwar die Politiker aller Parteien, egal ob SPD, CDU oder FDP. Und die Grünen haben einen harten Predigernukleus, der die Wissenschaftsfeindlichkeit auf seine Fahnen geschrieben hat. Da kann man also auch keine Bildungspolitik erwarten.
Im vergangenen Jahr haben die Grünen immerhin ein Bildungsforum in Berlin veranstaltet.
Ach Gott, jeder, von der größten Akademie bis zum kleinsten Taubenzüchterverein, macht ein Forum, bei dem irgendwie über Bildung gequasselt wird. Das ist doch keine Bildungspolitik.
Viele schieben die Bildungsmisere auf die stetig wachsenden Studentenzahlen.
Gegen viele Studenten ist gar nichts einzuwenden. Die tragen doch zur Hebung der allgemeinen Volksbildung, zu einer Akademisierung der Gesellschaft bei. Auch wenn sie später nicht alle den Arbeitsplatz finden, der ihrer Qualifikation entspricht. Selbst wenn der Theologe nach seinem Studium Taxifahrer wird, ist es doch für jemanden, der Taxi fährt, immer noch ein angenehmeres Erlebnis, mit einem Theologen zu fahren, als mit einem, der gar nichts gelernt hat.
Der Theologe als Taxifahrer – ist ein Studium da überhaupt noch empfehlenswert?
Das wäre ein reichlich zynischer Ratschlag. Man kann sich doch nicht wünschen, daß ein junger Mensch möglichst früh bis an den Kragenrand in den Produktionsprozeß eingegliedert wird. Mindestens einmal in seinem Leben – und der Zeitraum kann eigentlich nicht lang genug sein – sollte man ihm doch die Freude gewähren, neugierig zu sein und seinen Interessen nachzugehen. Studieren macht vielen Leuten doch auch unglaublichen Spaß. Dieser Aspekt kommt in letzter Zeit ganz aus der Mode, weil alle so fanatisch auf die Berufsorientierung starren.
Zwei Millionen Studenten tummeln sich zur Zeit an Deutschlands Universitäten.
Die Hochschulen sind diesem Ansturm ja auch weder in den Köpfen der Professoren noch von ihren technischen und pädagogischen Möglichkeiten oder der wissenschaftlichen Konzeption her gewachsen. 500 Studenten in einem Hörsaal verlangen einem Professor doch ganz andere Dinge ab als 15. Der muß doch schauspielerisches Talent entwickeln. Und das war früher nicht gefragt. Solange nur 15 Studenten eine Vorlesung besuchen, redet der Professor auch mal gegen die Wand, versinkt während seines Vortrags plötzlich in tiefes Nachdenken und sagt fünf Minuten lang gar nichts mehr. Machen Sie das mal bei 500 Studenten.
Der alte Typus des Professors hat also ausgedient.
Der ist heute nicht mehr tolerabel. Eigentlich müßten ganz neue Formen der Lehre entwickelt werden, und zwar mit anderen Leuten. Allerdings steht einer Veränderung der Lehre unser Wissenschaftssystem im Weg. Denn Gratifikationen werden ja nur dann ausgeteilt, sobald Sie ein Buch schreiben. Wenn Sie schweißtriefend aus einem Hörsaal kommen, nachdem Sie mit 500 Leuten eine zweistündige Vorlesung gehalten haben, erhalten Sie doch nur ein mitleidiges Grinsen von denen, die inzwischen im Café gesessen haben und über Gott und die Welt nachgedacht haben.
Und dabei geht die Qualität der Lehre den Bach runter und verflacht vollends.
Das kommt auf den Gegenstand an. Es gibt sicher heute noch viele hochmotivierte Professoren, die versuchen, das Humboldtsche Ideal zu leben. Das habe ich in eigener Person erlebt. Aber wenn Sie Byzantinistik machen...
...wie Sie...
...ist das natürlich nicht schwierig. Da kommen von vornherein nicht vierhundert, da kommen vier Studenten. Und nach einem Semester hat sich eine Art Familienverbund installiert.
Das ist ja wohl eine absolute Rarität an der Uni.
Höchstwahrscheinlich eine, die man völlig vernachlässigen kann, ja. Die großen Veranstaltungen der Jurisprudenz, der Volkswirtschaftslehre oder der Philosophie, die verflachen schon. An 500 Leuten kann ein Professor ja auch gar nicht mehr interessiert sein. Die Arbeiten, die diese 500 abliefern, kann kein Professor mehr selbst korrigieren. Er muß einen Schwarm von Assistenten anstellen, der seinerseits einen Unterschwarm von Hilfsassistenten dirigiert. Das heißt, der Professor ist abhängig vom Urteil seiner Assistenten und Hilfsassistenten.
Hamburger Studenten haben Anfang des Jahres den Vorwurf erhoben, daß nur noch Assistenten um sie herumschwirrten und die Professoren sich derweil ein schönes Leben machen.
Da ist viel Wahres dran. Die ruckartige Aufblähung der Einrichtung Universität hat natürlich dazu geführt, daß die Professoren auch nicht mehr besser sind als ihre Studenten. Professoren sind ja nicht lauter pflichtvergessene Leute. Zunächst macht ihnen schon die Lehre nicht viel Spaß. Und dann hat der Professor womöglich erst nach jahrelanger Anstrengung und nach unermüdlichen Versuchen das Wohlwollen seiner Vorgesetzten errungen. Mit 45 sieht er 20 graue Dienstjahre vor sich, und das Leben ist schon zu einem erheblichen Teil rum. Jetzt will er genießen. Also fährt der Herr Professor halt mit seiner Ehefrau auf die Bahamas, macht dort den Chirurgenkongreß mit und bleibt noch 14 Tage. Kaum kommt er zurück, folgt er dem Ruf nach Tokio – und so geht das das ganze Jahr über... Natürlich kann er mit solchen Eskapaden auch noch sein Gehalt ein bißchen aufbessern.
Es wird schon wieder über Studiengebühren nachgedacht. Sie haben schon 1992 für deren Einführung plädiert.
Ich hab' aber damals schon gesagt, sie sollten sozial abgefedert sein. Wenn ich mir den Begriff Elite zu eigen mache – und da bin ich gar nicht abgeneigt –, dann nicht im Sinne von Auswahl über den Geldbeutel, sondern nur durch Auswahl über Leistung. Ich habe mich 1992 als Vorsitzender des Wissenschaftsrates für die Einführung von Studiengebühren eingesetzt. Aber als ich gemerkt habe, daß dieses Geld nicht den Universitäten zur Verfügung gestellt worden wäre, sondern in die öffentlichen Kassen fließen sollte, habe ich mich dem Widerstand um mich herum gebeugt. Damals gab es einen großen Aufschrei von allen Seiten.
Minister Rüttgers will den Darlehensanteil des Bafög zukünftig mit acht Prozent verzinsen.
Es ist zumindest stillos, das Bafög zu verzinsen, um dadurch den Hochschulausbau zu fördern. Der Wissenschaftsrat hat schon 1991 gesagt, daß der Anteil des Bundes für den Hochschulausbau innerhalb der nächsten vier Jahre 2,3 Milliarden Mark betragen müsse. Damals sagten wir uns, so wie die Hochschulen in der ehemaligen DDR aussehen, brauchen wir eigentlich den gesamten Etat für den Osten. Jetzt hat die Bundesregierung den Etat strahlend von 1,8 auf 1,88 Milliarden Mark erhöht. Und dem Herrn Rüttgers fällt nichts anderes ein, als das Geld, das er eh zur Hälfte auf Darlehensbasis an Studenten vergibt, auch noch zu verzinsen, um dann mit Hilfe der acht Prozent den Hochschulausbau zu finanzieren. Im Grunde genommen ist das der totale Zusammenbruch einer verantwortungsvollen Politik. Das ist der Bankrott der Politik.
Sie erwarten noch Schlimmeres?
Die Bafög-Pläne von Herrn Rüttgers werden wohl nicht durchkommen, immerhin ist das ein Zustimmungsgesetz, und die SPD hat die Mehrheit im Bundesrat. Aber was wird dann laufen? Die Diskussion um Studiengebühren natürlich, und zwar in aller Härte.
Die Reform scheitert auch an den Strukturen.
Das ist ein Problem. Die disziplinäre Organisation des Wissens ist bei uns dermaßen verfestigt und auf sich selbst bezogen, daß sie meines Erachtens nur durchbrochen werden kann, wenn Wissenschaftler gezwungen werden, sich bei globalen Problemen zusammenzusetzen. Die Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtungen gelingt also nur, wenn das Problem und nicht die Disziplin das Erkenntnisinteresse diktiert. Bei solchen Phänomenen wie der Klima-, der Krebs- oder Aidsforschung kommt von vornherein ein interdisziplinäres, problemorientiertes, von vielen universitären und außeruniversitären Einrichtungen gleichzeitig betriebenes Forschungsnetz in Gang...
...das aber nicht von den Universitäten initiiert wird, sondern von Forschungseinrichtungen.
Die Hochschule ist in der Forschung zur Betreiberin von Geisteswissenschaften geschrumpft. Die Naturwissenschaften würden auch ohne die Universität weiterexistieren. Das begann vor 300 Jahren mit der Gründung von Akademien und ging in diesem Jahrhundert mit den Großforschungseinrichtungen weiter. Diese Auslagerung der Forschung aus der Hochschule hat dazu geführt, daß das Forschungsprivileg der Universität mehr und mehr verlorenging. Heute ist es fast auf ein Nichts geschrumpft. Und das bißchen, was noch existiert, wird durch die Pädagogisierung und die Umwandlung in eine höhere Lehranstalt vollends ruiniert.
Wie sieht denn dann die Zukunft der Hochschule aus?
Ich glaube nicht, daß sie sich von dem jetzigen Niedergang noch einmal wirklich erholt. Bei den Sparmaßnahmen ist noch kein Ende in Sicht. Und der Würgegriff des Finanzministers wird noch zunehmen. Ich denke, die Universitäten werden am Ende nichts anderes mehr sein als Berufsschulen.
Der Exportschlager Bildung ist erledigt?
Ja. Aber Sie können doch eine Nation, die Bankrott machen will, nicht mit allen Mitteln daran hindern, sich umzubringen.
Interview: Karin Flothmann
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