Genossen riefen Psychotherapeuten zu Hilfe

■ Wie sich der SPD-Ortsverein im schwäbischen Reutlingen selbst kaputtmacht

Reutlingen (taz) – Sie reden nicht mehr miteinander. Sie beschimpfen sich. Sie ziehen gegeneinander vor Gericht. Scharping und Schröder? Nein. Ein ganz normaler SPD-Ortsverein. In Reutlingen üben die Genossen schon jahrzehntelang, wie man sich aus der Partei hinausekelt.

Es war einmal eine rote Stadt. Viele Schlote, viele Fabriken, viele Millionäre und noch viel mehr Arbeiter. Reutlingen, Industriestädtchen am Fuße der Schwäbischen Alb, wählte rot. Und jetzt das: Jahrelanger Streit um Pöstchen, Listenplätze oder Landtagsmandate hat die Reutlinger Sozialdemokraten aufgerieben.

Irgendwann in den siebziger Jahren fing es an. Man setzte sich in den Versammlungen nur noch blockweise an den Tisch. Hier der Guhl-Block, dort der Weingärtner-Clan. Sprach der eine, bestellten die anderen Bier. Redete der andere, gingen die Gegner aufs Klo. Schwindler, Lügner, Faulenzer, Erpresser waren noch schmeichelhafte Ausdrücke, mit denen die Genossen in Reutlingen sich gegenseitig belegten. Dann trommelte ein Tisch, während der andere buhte. So geht das bis heute, und der Unterschied zu den neunziger Jahren ist nur der, daß man früher dazu den großen Saal der Naturfreunde brauchte, während heute ein kleines Nebenzimmer ausreicht.

Fast jährlich verschleißen die Sozis auf diese Weise einen Vorsitzenden. Sie kamen und gingen, lang hielt das keiner aus. Köddermann beschimpfte den Beck, Beck beschimpfte den Luka, Luka beschimpfte den Krauß. Köddermann trat aus, Beck trat aus, Wieland trat aus, viele traten aus, meist demonstrativ mit großer Geste im kleinen Nebenzimmer. Einmal legten 36 Genossen an einem Abend ihr Parteibuch auf den Tisch, geändert hat das aber nichts. Inzwischen hat sich der Reutlinger Ortsverein aufgespalten in zehn kleine Ortsvereinchen. So kann man noch besser gegeneinander zu Felde ziehen.

Der Ex-Landtagsabgeordnete verklagte seinen Nachfolger vor Gericht. Der habe über ihn behauptet, er zahle keinen Mitgliedsbeitrag mehr. Der Ex-Stadtrat zeigte den Fraktionschef an, der habe Fraktionsgelder mißbraucht. Wieder traf man sich vor Gericht, und wieder traten Mitglieder aus, weil sich in der Partei „inhaltlich einfach nichts mehr tut“.

Die SPD ist in Reutlingen bei ihrem historischen Wählertief von unter 30 Prozent angekommen. Die Jungsozialisten, einst schlagkräftig, treffen sich noch alle 14 Tage. Im Gemeinderat sitzen von einstmals 21 heute gerade noch neun SPD-Mitglieder. Die haben sich auch schon wieder in unversöhnliche Gruppen aufgespalten. Ein herbeigerufener Psychoanalytiker half den verfeindeten Parteifreunden vor kurzem, sich wieder die Hand zu reichen. Es hat viel Mühe gekostet – aber eine echte Therapie war das natürlich auch nicht. Die dauert bekanntlich mehrere Jahre. Philipp Maußhardt