Kohl visioniert im Vorgestern

■ Wie der Bundeskanzler die Berliner von der CDU überzeugen will und dabei ständig an die Vergangenheit erinnert. Seine 3.000 Zuhörer waren aber schon vorher überzeugt

Der Ort für den Auftritt des Kanzlers hätte nicht besser gewählt sein können. Rund 3.000 Menschen füllten am Montag abend das Palais unter dem Funkturm, das mit seinen Eisengeländern und Deckenbeleuchtungen noch heute den Mief der sechziger Jahre ausdünstet. Eigentlich war das Interieur sogar noch zu modern für Kohls stundenlange Rede, denn über die fünfziger Jahre kam der CDU-Bundesvorsitzende kaum hinaus – abgesehen von ausführlichen Exkursionen zur Wiedervereinigung und ein paar wohlwollenden Sätzen zu Europa.

Eine Entscheidungswahl sei der Urnengang am 22. Oktober, wenn die Berliner ihr neues Abgeordnetenhaus wählen, glaubte der Kanzler. Die Hauptstadt dürfe nicht den Gegnern der Wiedervereinigung überlassen werden, die mit Unterstützung der „Postkommunisten“ einen Verrat an der Zukunft planten. Applaus. Er werde es nicht hinnehmen, daß über die Verbrechen des Dritten Reichs geredet, aber über die Verbrechen der SED-Diktatur geschwiegen werden dürfe, meinte der Kanzler. Minutenlanger Applaus.

Ein SPD-Plakat mit der Forderung, alle drei Flughäfen sofort zu schließen, war Kohl für seine Thesen darüber hinaus Beweis genug: „Ja sind die Leute denn bescheuert? Wie will man denn eine Weltstadt sein, die man nicht mehr anfliegen kann?“

Dann malte der Kanzler ein Bild von einer Zukunft ohne Verrat, dafür aber mit einem großen Klecks Vergangenheit. Deutschland brauche eine „neue Kultur der Selbständigkeit“, schlug der Regierungschef vor, um im selben Atemzug an die fünfziger Jahre zu erinnern. Damals habe es den Willen gegeben, neue Existenzen aufzubauen, heute erstrebe dagegen jeder zweite Student ein Arbeitsverhältnis beim Staat.

Der Wohlstand in den alten Bundesländern sei nicht vom Himmel gefallen: „Der ist hart erarbeitet.“ Die Leier vom Abbau des Sozialstaates sei einfach lächerlich. Wieder wühlte der Kanzler in den Winkeln seines inzwischen über 60 Jahre alten Gedächtnisses, um Erinnerungsfetzen aus seiner Zeit als Pubertierender hervorzukramen: 1948/49 habe „uns die Familie gerettet“, die zusammengehalten habe. Aber die Familie soll in Kohls Vision nicht bloß zusammenhalten, sondern auch wachsen. Ein Land ohne Kinder habe nämlich keine Zukunft. Kinder sollten deshalb auch in einer Stadt wie Berlin Vorfahrt erhalten. „Ein kinderfreundliches Land ist ein menschenfreundliches Land“, und „ein menschenfreundliches Land kann kein ausländerfeindliches Land“ sein, befand der Kanzler.

Selbstverständlich wollte Kohl seinen Auftritt dazu nutzen, auch sozialdemokratische Wähler für seine Partei zu gewinnen. Er wende sich an die, die aus Familientradition, „etwa weil der Großvater schon in der Bewegung war“, SPD wählten, sagte er. Sie könnten ihrer ins Abseits geratenen Partei aber helfen, indem sie CDU wählten, um ein weiteres Abdriften der Sozialdemokratie zur PDS zu verhindern. Doch sein Hilfsangebot wirkte im Palais merkwürdig deplaziert, wußte der Kanzler doch allzu genau, daß die CDU bei Kohl-Veranstaltungen wie immer nur Parteimitglieder und Sympathisanten geladen hatte. Dirk Wildt