Wer hat Angst vor der bösen Regierung?

1965 waren es noch 35 Prozent, 1994 schon 67 Prozent: So viele Amerikaner halten – nach Depression, Zweitem Weltkrieg und dem Ende der Sowjetunion – mittlerweile ihre eigene Regierung für die größte Bedrohung des Landes  ■ Von Martin Walker

Im Mai dieses Jahres war Sam Henderson froh, seinen Beruf als Verwalter des texanischen „U.S. Fish & Wildlife Service“, ein Naturschutzdienst, aufgeben zu können. Er hatte zu viele Todesdrohungen erhalten. Er hatte es satt, ständig mit einem bewaffneten Bodyguard reisen zu müssen; es machte ihn krank, das Regierungsabzeichen von seinem Dienstwagen abnehmen zu müssen; und er war bestürzt über eine „Sicherheitsanweisung“, die ihn dazu verpflichtete, seine Mitarbeiter aufzufordern, ihre Uniformen nicht in der Öffentlichkeit zu tragen.

Es gibt Regionen der USA, wo die Regierungsautorität keine Wirkung mehr hat, wo jede Möglichkeit einer Konfrontation mit bewaffneten Zivilmilizen bewußt gemieden wird und dem Gesetz nicht länger Geltung verschafft wird. Die Abteilung der Landverwaltung befahl ihren Angestellten förmlich, in den Staaten Nevada und Idaho nur zu zweit zu reisen und „Gegenden mit bekanntem Konfliktpotential“ zu meiden.

Ganzseitige Anzeigen in den Zeitungen stellten staatliche Regierungsbeamte als „Raudis in Schaftstiefeln“ dar – Teil einer Kampagne der National Rifle Association (NRA), die den Bürgern das Recht sichern sollte, Waffen zu tragen. Sofern die Regierung nicht jetzt daran gehindert wird, argumentierten die NRA-Unterstützungsappelle, werden ihre Vertreter „mehr Macht haben, uns unsere Verfassungsrechte zu nehmen, unsere Türen einzutreten, unsere Waffen zu beschlagnahmen, unser Eigentum zu zerstören und uns sogar zu verletzen oder zu töten“.

Diese Art Waffen-Lobby-Rhetorik gegen die US-Regierung ist in der amerikanischen Rechten inzwischen durchaus gängig. Aber die Atmosphäre des Mißtrauens gegenüber der Regierung breitet sich beunruhigenderweise weiter aus. Sie scheint überdies weitaus tiefere Wurzeln als irgendwelche unmittelbaren Bedenken gegen Bill Clintons Präsidentschaft oder gegen die Waffengesetze zu haben; oder als die Verärgerung der Landbesitzer über die Macht von Naturschutz-Beamten wie Sam Henderson, die Landgewinnung im Namen von Lebensraum- und Artenschutz verbieten können.

Stufenweiser Vertrauensverlust

Während der letzten dreißig Jahre war eines der beständigsten Merkmale des öffentlichen Lebens in den USA die positive Einstellung der Bevölkerung gegenüber den meisten Hauptanliegen der Regierungspolitik. Eine geschlossene Mehrheit von über zwei Dritteln der AmerikanerInnen war sich in Meinungsumfragen einig, daß die USA direkt in Weltangelegenheiten mit einbezogen sind und bleiben müssen; daß Verbrechen ein ernsthaftes Problem sind; daß Frauen und ethnische Minderheiten besondere Aufmerksamkeit verdienen, um die Folgen vergangener Diskriminierung zu überwinden; und daß die Steuern zu hoch sind.

Aber der Glaube an die Regierung selbst hat sich drastisch verändert. Eine landesweite Wahlstudie der University of Michigan von 1958 hat noch ergeben, daß 73 Prozent der Bevölkerung glaubten, sie könnten „der Regierung meistens oder immer vertrauen, daß sie richtig handeln“. Im vergangenen November stellte CBS in einer Umfrage dieselbe Frage noch einmal. Dieses Mal hatten nur noch 22 Prozent der Befragten einen solchen Glauben in ihre Regierung.

Sinkendes Vertrauen ist eine Sache, die Regierung als eine nationale Bedrohung anzusehen eine andere. Das aber ist die Grundannahme einer weiteren Reihe von Umfragen über einen ähnlichen Zeitraum von dreißig Jahren. 1965 fragte das Meinungsforschungsinstitut Gallup nach der „größten Bedrohung für die USA in der Zukunft“, und 35 Prozent der Befragten antworteten: Big Government, eine mächtige und aufgeblähte Regierung also. 1985, nach dem Wiederwahlsieg von Präsident Ronald Reagan – der gerne betonte: „Die Regierung ist nicht die Lösung; die Regierung ist das Problem“ –, wiederholte Gallup seine Umfrage. Der Anteil der Befragten, die das Big Government als die einzige große Bedrohung der Nation bezeichneten, stieg auf 50 Prozent an. Reader's Digest führte dieselbe Umfrage noch einmal im letzten Jahr durch und ermittelte, daß nun 67 Prozent der Amerikaner glauben, daß ihre eigene Regierung die größte Bedrohung des Landes sei.

Diese außergewöhnliche Verschiebung hat keine rationale Begründung. Trotz der Ausweitung des Sozialstaates durch Lyndon B. Johnsons großes Gesellschafts- Programm „Great Society“, sind die Forderungen der staatlichen Regierung nicht ins Monströse angewachsen. Zwischen 1958 und heute sind die Ausgaben der Regierung im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt (BSP) in einem relativ engen Rahmen geblieben. 1958 gab die Regierung 18,4 Prozent des BSP aus, dieses Jahr werden es 21,8 Prozent sein. Die niedrigste Ausgabenrate innerhalb des angegebenen Zeitraums belief sich 1965 auf 17,6 Prozent, die höchste auf 24,4 Prozent im Jahre 1983 – aufgrund des Wiederaufrüstungsprogramms von Reagan.

Es gab drei US-Politiker während dieses Zeitraums, die versuchten, eine politische Karriere auf dem Slogan aufzubauen, das Big Government müsse schrumpfen. Senator Barry Goldwater, republikanischer Präsidentschaftskandidat von 1964, verlor erheblich an Lyndon B. Johnson, der die Great Society, ein sozialpartnerschaftliches Gesellschaftskonzept, versprach. Ronald Reagan war 1980 und 1984 mit dem doppeldeutigen Slogan erfolgreich, Regierungsausgaben seien ein Problem der inneren Angelegenheiten, gleichzeitig aber der Weg zum Heil im manichäischen Kampf mit dem „Reich des Bösen“, der UdSSR. 1994 führte der Kongreßabgeordnete Newt Gingrich die Republikaner zu ihrem ersten Kongreßsieg seit vierzig Jahren, indem er einen speziellen amerikanischen Gesellschaftsvertrag versprach, der „eine historische Veränderung vorsieht – das Ende einer Regierung, die zu groß ist, sich zu stark einmischt und die zu leichtfertig mit öffentlichen Geldern umgeht“.

Angst vor Einmischung und Verschwendung

Eigentlich sollte Newt Gingrich es besser wissen. Als Kind eines Militäroffiziers wurde er mit öffentlichen Geldern an einer Militär- Schule ausgebildet. Von Einkünften aus seiner politischen Tätigkeit abgesehen, stammen seine einzigen Gehälter aus Lehraufträgen an einem staatlichen College. Seit seiner Kindheit, als Student, Lehrbeauftragter und Kongreßmitglied wurde seine Krankenversicherung immer aus öffentlichen Mitteln gezahlt. Dieses Grundmuster findet man bei amerikanischen Politikern immer häufiger, Präsident Clinton eingeschlossen. Bestes Beispiel ist vielleicht der konservative Senator und Präsidentschaftskandidat Phil Gramm – ein weiterer Mann, der seine Karriere auf der Notwendigkeit aufzubauen versucht, die Regierung zu schrumpfen.

Senator Gramm wurde im Militärkrankenhaus in Fort Benning geboren, wo sein Vater von einer Kriegsversehrtenrente lebte. Er ging auf die Georgia-Universität, Schul- und Unterhaltskosten wurden aus dem staatlichen Kriegswaisen-Fonds beglichen. Sein Schulabschluß wurde durch ein staatliches Stipendium finanziert, und anschließend arbeitete er wiederum an einer staatlich geförderten Universität in Texas. Auch als Kongreßmitglied und Senator blieb er weiter auf der öffentlichen Gehaltsliste – um sich von dort aus gegen die Verschwendung öffentlicher Gelder einzusetzen.

Selbstbewußte neue Mittelklassen

Die öffentliche Ablehnung des Big Government ist im amerikanischen Westen und Süden am stärksten, in jenen Staaten also, die am meisten von den gewaltigen öffentlichen Ausgaben des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges für Militärkasernen, Raumfahrt- und Verteidigungsindustrie profitiert hatten. Sie veränderten die industrielle Geographie der Vereinigten Staaten, indem sie die neue Produktionsbasis nach Süden verlagerten. Der langanhaltende Boom militärischer Ausgaben, die Produktionsanlagen von McDonnell Douglas, North American und Hughes Aircraft sorgten dafür, daß die kalifornische Bevölkerung in den fünf Jahrzehnten nach 1940 um das Sechsfache anstieg. Boeing expandierte in den Nordwesten, und General Dynamics und McDonnell Douglas halfen, einen weiteren militärisch-industriellen Komplex in St. Louis aufzubauen. Im Namen der nationalen Sicherheit und mit der Begründung, die Städte bei einem Atomalarm besser evakuieren zu können, wurden diese industriellen Zentren durch ein Autobahnprogramm, das Interstate Highway Network, zu einem kontinentweiten Netz verbunden – ein weiteres Big-Government-Programm also.

Das moderne Amerika wurde vom Big Government gebaut. Die beachtliche Errungenschaft breiter Mittelschichten wurde nach 1945 durch öffentliche Gelder ermöglicht: von einem Kreditprogramm für Kriegsveteranen, das Millionen Hausbesitzer schuf, bis zu jenem Programm, das GIs eine College-Ausbildung zusicherte.

Zweifellos sind jetzt einige Angehörige dieser expandierten Mittelklasse egoistischerweise nicht bereit, Steuern zu zahlen, die es bislang Ausgegrenzten ermöglichen könnten, auf dieser Leiter ebenfalls ein Stück höher zu klettern. Andere mögen dagegen protestieren, in welchem Maße die Regierung ihre Kompetenz in der Sozialpolitik verloren hat. Millionenausgaben an Sozialhilfe haben das Problem der Armut nicht gelöst. Affirmative action, eine Unterstützungsinitiative für ethnische Minderheiten, hat das Problem der Diskriminierung nicht gelöst. Und noch mehr Polizei und Gefängnisse, in denen jetzt über eine Million Amerikaner hinter Schloß und Riegel sind, haben Verbrechen weder bekämpft noch gestoppt.

Hausgemachtes statt großer Weltkrisen

Aber in gewisser Hinsicht ist die öffentliche Wahrnehmung, daß die größte Bedrohung jetzt in ihren eigenen Institutionen zu suchen ist, eine durchaus sinnvolle Vorahnung. Wenn die Alpträume von Erderwärmung und extraterrestrischen Invasionen knapp werden, ist es nicht einfach, eine neue externe Bedrohung auszumachen, die den durchschnittlichen, arbeitenden und rational veranlagten Amerikaner davon überzeugen könnte, sie ernst zu nehmen. Zum ersten Mal in gut über sechzig Jahren, stehen die USA keiner tödlichen Herausforderung mehr gegenüber, die das Überleben der Republik in Gefahr bringen und so den nationalen Konsens entstehen lassen könnte, der einem Big Government das Handeln ermöglicht.

Das hervorstechende Merkmal der letzten sechs Jahrzehnte – der Entstehungsära dessen, was Arthur Schlesinger „Imperial Presidency“ (etwa: kaiserliche Präsidentschaft) nannte – besteht darin, daß die Krise nie endete. Die Depression führte in den Zweiten Weltkrieg, der wiederum in den Kalten Krieg mündete. Diese drei Herausforderungen, jede für sich eine existentielle Bedrohung der Nation, gingen fast nahtlos ineinander über. Die deutlichste Gefahr für die Republik bestand dabei darin, daß jede dieser Krisen eine Rechtfertigung für eine handlungsstarke Regierung darstellte, in der alle Ressourcen, über die die Nation verfügt, vom Präsidenten zusammengeführt, geleitet und geregelt werden mußten. Wer aber braucht jetzt, wo die lange Krise vorüber ist, eine große und kostspielige Regierung, der so wenige US-Bürger vertrauen?

Vielleicht Newt Gingrich. Er erkennt selbstverständlich eine neue und selbstgemachte Krise. Auf einer Wahlveranstaltung von Ross Perot in Dallas verkündete er im August: „Wir befinden uns in großer Gefahr, vergleichbar mit dem Römischen Reich nach den Punischen Kriegen.“ Die Nation hätte vor allem ihre sozialen Krankheiten zu heilen: „Keine Zivilisation kann überleben, in der 12jährige Babies bekommen, 15jährige sich gegenseitig umbringen, 17jährige an Aids sterben und 18jährige ihr High-School-Abgangszeugnis nicht lesen können.“

Angesichts einer entmutigten Demokratischen Partei und einer Regierungsbürokratie, die sichtlich das Vertrauen in ihre traditionellen Heilmittel verloren hat, gewinnen Gingrich und seine Republikaner Boden mit ihrem Argument, daß derlei Tragödien sich durch den verschwenderischen Wohlfahrtsstaat eines Big Government auch nicht lösen lassen können. Jetzt muß Gingrich eigentlich nur noch erklären, wie eine Gesellschaft funktionieren soll, in der Naturschutzbeamte wie Sam Henderson um ihr Leben fürchten müssen.

Martin Walker ist Washington-Korrespondent des Guardian