Wieder Zeit für Farbenblindheit

In den gegenwärtigen Zensurkontroversen um „hate speech“ und Sprachcodes geht es letztlich um Rassenpolitik. Denn schon immer wurden gerade Minderheiten gern durch Indizierung ihrer Sprache zum Schweigen gebracht  ■ Von Gara LaMarche

„...wir benutzen die Sprache des Gesetzes und der Politik, um die Sprache zu bekämpfen, die verwundet und ausgrenzt. Wir suchen ein rechtmäßiges System, das den Schaden der Strukturen des Habens oder Nichthabens erkennt und heilt...“ Mari Matsuda, Charles Lawrence, Richard Delgado und Kimberley Williams Crenshaw in der Einleitung zu „Words That Wound: Critical Race Theory, Assaultive Speech and the First Amendment“

Was der Supreme Court, Amerikas Oberster Gerichtshof, und opportunistische Politiker wie der Präsidentschaftskandidat Bob Dole und Peter Wilson den Gesetzen und der Politik für Rassengleichheit antun, erinnert an das Ende der Rekonstruktionszeit [Wiederangliederung der Südstaaten, Anm. d. Red.] im letzten Jahrhundert. Minderheitenwahlrechte stehen unter Beschuß, affirmative action, die Förderprogramme für Minderheiten, werden angegriffen, die Rassentrennung in der Schule wird wieder geschürt. Wir haben genug für Schwarze und Latinos getan, schimpft die verärgerte weiße Minderheit, jetzt ist Zeit für „Farbenblindheit“. Ein Alptraum für die Bürgerrechte. Wie ist es also möglich, daß sich unsere besten Rechtsexperten (wie die oben zitierten) damit beschäftigen, Wege zu finden, um Sprechen zu bestrafen?

Ich wünschte, ich wüßte eine Antwort. Mir ist ihr Anliegen sympathischer, als sie es sich vielleicht vorstellen, da ich die Hauptzeit meiner Karriere als Rechtsanwalt verbracht habe. Worte können wirklich verletzen, manchmal mehr als Schläge, und niemand sollte ableugnen, daß eine rassistische Formulierung sehr schmerzen kann. Wo sie als persönliche Bedrohung daherkommen oder etwa am Arbeitsplatz fallen, wo sie die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen können, mögen diese Worte ungesetzlich sein.

Viele meiner GesinnungsgenossInnen aus dem Zivilrecht sind über den Begriff political correctness entsetzt; ihnen hat sich ein Chor Rechtsgerichteter angeschlossen, die endlich ein bißchen „Zensur“ gefunden haben, die sie mißbilligen können. Aber ich finde diese Besorgnis, die im übrigen stark auf einer relativ kleinen Zahl gutverkaufter Anekdoten beruht, übertrieben. Wenn StudentInnen ihren LehrerInnen die Meinung sagen, ArbeiterInnen ihrem Chef oder LeserInnen einem Kolumnisten, der sich gedankenlos über irgend etwas geäußert hat, halte ich das nicht für Zensur. Es ist vielmehr der Ton einer Gesellschaft, die den oft schmerzhaften Übergang von der Vorherrschaft einer Kultur zu einem gängigen Code durchgemacht hat.

Ein Zaun um Bilder aus urbanen Ghettos

Und trotzdem: Sprachcodes und Gesetze, die es erleichtern sollen, ein Sprechen zu bestrafen, das aus den Kategorien Bedrohung und Belästigung am Arbeitsplatz herausfällt, halte ich für unerträglich. Die Kosten einer solchen Regelung sind viel zu hoch, und ich bedaure die enorme Energie und Kreativität, die viele Bürgerrechtsanwälte bereits in dieses Unternehmen hineingepumpt haben.

Ich schreibe hier über Rassenfragen; die feministische Bewegung hat ebenfalls ihre zensorischen Begleiterscheinungen. Aber dort sehe ich wenigstens eine dynamische Gegenbewegung, die darauf besteht, daß Catherine MacKinnon und Andrea Dworkin nicht für sie sprechen. In bezug auf die Rassenfrage sehe ich eine solche Bewegung allerdings nicht – abgesehen vielleicht von einigen wichtigen Minderheitenstimmen gegen die Hate speech-Kreuzzüge, wie Henry Louis Gates Jr. von der Harvard University oder Michael Meyers von der „New York City Civil Rights Coalition“, einer Bürgerrechtsorganisation.

Doch diese Gegenbewegung ist bitter nötig. Denn Minderheiten und jene, denen politische Macht fehlt, werden immer durch Indizierung bestimmter Redewendungen und Ausdrücke in ihrer Sprache benachteiligt, und es ist eine größtenteils nicht erzählte Geschichte, wie gerade dieses Minderheitenvokabular in vielen amerikanischen Zensurschlachten zur Zielscheibe gemacht wurde. Doch dieser Aspekt – daß nämlich alle Zensurgesetze letztlich dazu dienten, die Stimmen von Schwarzen und anderen Minderheiten zum Schweigen zu bringen – bleibt in der gegenwärtigen Debatte über hate speech weitestgehend ausgeklammert.

1976 entfernte zum Beispiel der Vorstand des Island-Trees-Schulbezirks auf Long Island neun Bücher unter dem Vorwand aus der Schulbibliothek, sie seien „unamerikanisch, antichristlich, einfach Schund“. Bis heute wurde kaum zur Kenntnis genommen, daß sieben dieser neun Bücher von Minderheitenautoren stammten – einschließlich „Black Boy“ von Richard Wright, „A Hero Ain't Nothing but a Sandwich“ von Alice Childress und Arbeiten von Langston Hughes und Piri Thomas. Der Oberste US-Gerichtshof meinte knapp, daß ein Verstoß gegen das First Amendment vorläge, wenn bewiesen werden könnte, daß diejenigen, die die Bücher entfernt hatten, ein politisches Motiv dafür gehabt hatten. Angesichts der betroffenen Bücher hatte ich allerdings immer das Gefühl, daß hier in Wirklichkeit nichts als ein Ausgrenzungsfall vorlag – der Versuch eines weißen Vorstadt-Schulbezirks, einen Zaun um Bilder aus den urbanen Ghettos zu ziehen.

Aber betrachten wir die aktuelleren Zensurkontroversen in den Vereinigten Staaten einmal unter dem Blickwinkel von Rassenfragen. Wer sind denn die einzigen Menschen, die wegen einer angeblich obszönen Schallplatte strafrechtlich verurteilt wurden? Eine schwarze Rapgruppe, 2 Live Crew, und ein schwarzer Schallplattenladenbesitzer, der die Platte verkauft hatte. Welcher Funken entfachte den Krieg gegen den National Endowment for the Arts, die nationale Kunststiftung? Die Fotografien von Robert Mappelthorpe mit Motiven gemischtrassiger Liebesakte. Was schürte das Feuer gegen die öffentliche Fernsehfinanzierung? Eine Dokumentation von Marlon Riggs über den Alltag von schwarzen Schwulen.

Unverbrüchliches Recht auf Disput

Diese Fälle wurden als Fragen der Sexualität angesehen, aber der rote Faden der Rassenproblematik durchzieht jeden einzelnen von ihnen. Wenn man in der US-Gesellschaft auf der Suche nach einem Sündenbock ist, ist eine schwarze Person die günstigste Ausgangsbasis. Angesichts der Beständigkeit und dem Umsichgreifen von Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft ist es kein Wunder, daß viele Afroamerikaner die Kandaren für rassistische Redewendungen für eine attraktive Waffe halten. Aber sie ist ein Bumerang und kein Schwert. Wie die Richter Douglas und Black 1952 in einem kontroversen Gutachten über den Fall „Beauharnais gegen den Staat Illinois“ schreiben: „Dieselbe Art Staatsrecht, die Beauharnais wegen seiner Verfechtungen der Rassentrennung in Illinois zu einem Verbrecher macht, kann dazu verwandt werden, Menschen in anderen Staaten für das Verfechten von Gleichheit und Nicht-Rassentrennung ins Gefängnis zu stecken.“

Die Unteilbarkeit der Rechte des First Amendment ist nicht hypothetisch. In den 40er Jahren kam ein suspendierter katholischer Priester namens Terminiello aus Birmingham, Georgia, nach Chicago, um vor einem Publikum von 800 Sympathisanten Rassenhaß zu predigen, während draußen eine Menge von über 1.000 Menschen protestierte. Die Polizei verklagte Terminiello wegen Hetze und öffentlicher Ruhestörung. Er wurde inhaftiert, aber 1949 kehrte der Bundesgerichtshof das Urteil um und befand, so Richter Douglas, daß „es eine Funktion der freien Meinungsäußerung innerhalb unseres Regierungssystem ist, einen Disput auszulösen“.

Zwanzig Jahre später, 1969, führte Dick Gregory eine Gruppe von Demonstranten zum Haus des Chicagoer Bürgermeisters Richard Daley, um gegen Rassentrennung zu protestieren. Die Veranstaltung war friedlich, aber zahlreiche Anwohner bewarfen die Demonstranten mit Wasser, Steinen und Eiern. Die Polizei verhaftete die Demonstranten, und die Gerichte verurteilten sie, aber der Oberste Gerichtshof verwarf das Urteil – und berief sich auf das Terminiello-Verfahren.

Während Schulen wieder Rassen trennen, Politiker in Fragen affirmative action die Seiten wechseln, um die fortgesetzte Rassenunruhe und -feindlichkeit auszunutzen, und eine Säuberung des Kongresses von afroamerikanischen Mitgliedern im Gange scheint, ist es durchaus möglich – obwohl es wenig Anzeichen dafür gibt –, daß verärgerte Angehörige der bekannten Minderheiten wieder auf die Straße gehen werden, wie sie es in den 60er Jahren taten. Ihre Sprache mag ungezügelt und manchmal weißenfeindlich sein. Sie mögen verhaftet, verurteilt und auf Bewährung freigelassen werden. Sollte dieser Tag kommen, dann hoffe ich nicht unter einem System, an dem heute einige unserer besten Bürgerrechtsdenker basteln. Denn mit diesem System werden die Mächtigen noch ein weiteres Werkzeug gegen die drängenden Forderungen nach Integration in der Hand halten...

Gara LaMarche ist stellvertretender Direktor der Human Rights Watch. Er ist Herausgeber des Buches „Speech and Equality: Do We Really Have to Choose?“, das im November bei New York University Press erscheint.