Ich höre was, was ich nicht sehe

■ Das ZDF strahlte die Komödie "Hotel Mama" am Montag mit eigenem Off-Kommentar für Blinde aus

Das deutsche Fernsehen hat ein neues Spiel entdeckt: Ich sag' dir was, was du nicht siehst. Schauspieler beliefern Blinde und Sehschwache mit gesprochenen Zusatzinformationen, damit sie in den vollen Filmgenuß kommen. Wie tief jedoch dieses hilfreiche Vorhaben noch in den Kinderschuhen steckt, offenbarte sich am Montag: Während den Fernsehzuschauern zwei junge Menschen präsentiert wurden, die sich sichtbar leidenschaftlich miteinander vergnügten, vermeldete den Zuhörern eine nüchterne Off-Stimme: „Felix und Carola wälzen sich im Bett. Sie drehen sich. Carola liegt jetzt auf Felix und richtet sich auf. Erneuter Stellungswechsel. Man sieht Beine, die sich leidenschaftlich aneinanderreiben.“

Und doch war die ZDF-Komödie „Hotel Mama“ einer der seltenen Höhepunkte im Fernsehleben blinder und sehschwacher Menschen. Vorbei die Zeiten, in denen Blinde trotz des berühmten Krückstocks nicht mitkriegten, wenn der Schurke das Gift in das Rotweinglas der gehaßten Ehefrau träufelte und sie sich nur verwundert die blinden Augen reiben konnten, warum die Dame so urplötzlich von der Bildfläche verschwunden ist. Denn bei Szenen, die geräuschlos über die Fernsehbühne gehen, versagt selbst ihr äußerst gut ausgeprägte Sinnesorgan Ohr. Um so schreckhafter müssen sie auf den ohne Vorankündigung eingeblendeten Werbeblock reagieren. Ist der Sehende lediglich genervt, muß dem Nichtsehenden vor Schreck der Blindenstock aus der Hand fallen. Eben noch im Büro des Maklers, findet er sich holterdipolter in einer Allzweckreinigerwerbung wieder.

„Audiodeskription“ heißt das Zauberwort, das in Deutschland noch ein Fremdwort ist. Auf ein digitales Audiotape, das auf den fertig gemischten Film gemischt wird, werden für Nichtsehende wichtige Informationen gesprochen. Obwohl zu deren Empfang ein Gerät mit Stereoempfangssystem nötig ist, werden diese Filme in Mono gesendet. So kann auf dem einen Tonkanal der „Originalton“ und auf dem anderen der „Originalton mit dem Audiodeskriptionstext“ empfangen werden.

Am besten eignen sich dialogarme Filme. Wird wie bei „Hotel Mama“ viel gesprochen, bleibt für Zusatzinformationen oft wenig Zeit. Deshalb ist es um so wichtiger, zu entscheiden, welche Information wirklich wichtig ist. Ob Dagmar nun aus der rechten oder linken hinteren Autotür aussteigt, ist für die Handlung gelinde gesagt scheißegal. Viel wichtiger wäre es, statt nüchtern wie eine OP-Schwester zu sagen: „Die nächste Szene spielt in Norberts Schlafzimmer“, zu beschreiben, wie das Gemach denn aussieht. Blinde wollen sich auch nicht mit der Nullaussage „Eine schöne Blondine“ abspeisen lassen. Durch die Beschreibung ihres Aussehens möchten sie sich ihr eigenes Urteil bilden.

Was in Amerika, England und Frankreich längst selbstverständlich ist, durch eingesprochene Texte im Kino, Theater und Fernsehen Blinde und Sehschwache stärker einzubeziehen, bleibt hierzulande wohl weiterhin die Ausnahme. „Hotel Mama“ ist erst der dritte Audiodeskriptions-Film im deutschen Fernsehen. Daß es überhaupt dazu gekommen ist, ist der Hartnäckigkeit des Deutschen Blindenverbandes zu verdanken. Der klapperte diverse Fernsehsender mit seinem Anliegen ab. Doch nur beim ZDF stieß er auf offene Ohren.

Bisher übernimmt der Blindenverein mit etwa 10.000 Mark den Großteil der Kosten und finanziert die Texterstellung, den Sprecher und die Aufnahme – als „Anschubfinanzierung“. Ob Blinde und Sehschwache dieses Jahr weitere Hörseh-Höhepunkte erleben werden, ist mehr als ungewiß. Denn das ZDF, selbst von finanziellen Nöten gebeutelt, zahlt derzeit nur die rund 3.000 Mark für die Technik. Zur Zeit werde im Hause geprüft, so Caroline von Senden von der Abteilung Fernsehspiel, wie diese Zusammenarbeit trotz der Finanznöte intensiviert werden könne. Immerhin habe man eine Vereinbarung getroffen, vier bis fünf Fernsehspiele pro Jahr für die 750.000 Blinden und Sehschwachen zu bearbeiten. „Wir sind noch am Anfang“, gesteht auch Ludwig Krecher, Leiter der ZDF-Zentralabteilung „Fernsehspiel“. Wohl wahr. Daß die Off-Stimme vorgestern vollmundig vermeldete, soeben fahre ein Auto „mit quietschenden Reifen“ vor, war nicht nur für den Fortgang der Handlung völlig überflüssig. Wie gut zu hören war, quietschte da nämlich gar nichts! Barbara Bollwahn