■ Wühltisch
: Tönerne Mediterranität

Mitte der achtziger Jahre war die Flokati-Zeit endgültig vorbei. Die muffigen Stoffbündel wanderten auf den Sperrmüll, und durch die Wohngemeinschaftsflure frästen die Parkettschleifmaschinen. Das urbane Lebensgefühl arrangierte nun kunstvoll Drahtgestellsessel, Wagenfeldlampe und gläsernen Couchtisch zu einer übersichtlichen Einheit auf mit Bio-Lack versiegelten Böden.

Aber Vorsicht! Verdächtige Gemütlichkeit ist wieder auf dem Vormarsch, diesmal in irreversibler Ausführung. Terrakotta heißt die rustikale Kehrseite zur Italienisierung der privaten Verhältnisse. Auf Balkonen und in Küchen wandelt man heutzutage vielerorts schon auf dem Tonfußboden, der laut Prospekt mediterrane Ruhe ausstrahlt. Im Trend liegt auch der Eßtisch aus handgeformten Fliesen, passend dazu bastgeflochtene Holzstühle. Beim Terrakottawaschtisch wird die Edelstahlschüssel nicht in die Fliesen eingelassen, so daß man lediglich eine Fliese für den Abfluß aussparen muß. Und mit jeder geretteten Fliese feiert man einen kleinen Sieg im Kampf gegen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.

An der zunehmenden Verwendung der klassischen Fliesen läßt sich nun dreierlei ablesen. Erstens: unkorrumpierbarer Geschmack. Terrakotta steht für Stilsicherheit, die modisches Geraune demonstrativ zurückweist. Die Muster sind handgeprägt, die Farben rötlich erdverbunden. Terrakotta drückt mithin Solidität und Langlebigkeit aus. Zweitens: ökologisches Bewußtsein. Terrakotta lebt und verlangt, daß mit ihr gelebt wird. Die Fliesen sind eine Art tönernes Haustier, ein naher Verwandter des berühmten Kressetiers, auf das man stets achtgeben muß. Durch Wachs- und Versiegelungsmittel können sich die Farben ändern. Doch trotz seiner Robustheit verlangt der Boden Pflege. Außenflächen sind bei Minustemperaturen mit Schutzfolien abzudecken. Die Zerbrechlichkeit des Stoffs ist dem Benutzer eine stete Mahnung für den Umgang mit der Welt. Drittens: soziale Position. Terrakotta ist nicht billig, der Quadratmeter kostet je nach Ausführung von 80 Mark an aufwärts. Wer auf Terrakotta wandelt, hat in der Regel allerlei Experimente mit Auslegeware unterschiedlicher Faser hinter sich. Er ist vor Geschmacksirrtümern relativ sicher und weiß, daß er in der nächsten Zeit nicht umziehen wird. Terrakotta ist also Qualitätsboden für sozial wie emotional Gefestigte.

Schritt für Schritt hat man sich auf die Tonlage vorbereitet. Blumenkübel aus dem Naturkostladen ebneten den Weg in die Küchen von Studienräten und Sozialpädagogen. Es folgten Vasen und Lampen. Mit Terrakotta erwirbt man einen Naturstoff mit hoher politischer Halbwertzeit. Die Fliesen sind Unikate, man sieht ihnen die handwerkliche Fertigung an. Bei großer Nachfrage kann sich die Lieferung verzögern. Das nimmt der politisch korrekt einkaufende Kunde gern als Zeichen dafür, daß die lokale Produktion noch nicht der Vollindustrialisierung preisgegeben ist. Farbfehler und Lasurnarben sind Echtheitszertifikate.

Das Glatte, haben wir bei Roland Barthes gelernt, ist immer ein Attribut der Perfektion. Es verkörpert Objektivationen, die aus einer anderen Welt herabgestiegen sind. So seien Plastikeimer und ähnliches plötzliche Konvertierungen der Natur. Der ökologiebewußte Mensch tut sich mit derlei schwer und wandelt lieber auf massiven Fliesen – wissend, daß darunter der Strand liegt. Harry Nutt