Die Reizworte der Liberalen auslassen ...

... und mit einem stillen Seufzer den Islam besingen: Annemarie Schimmel sprach auf dem 26. Deutschen Orientalistentag in Leipzig – über eine fromme Wissenschaft, die sich hinter Text und Exegese vor der Tagespolitik versteckt  ■ Von Harald Fricke

Die Sache ist nicht ausgestanden. Zwar hat der Stiftungsrat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels seine Entscheidung, Annemarie Schimmel auszuzeichnen, nochmals bestätigt. Aber seit ihren Äußerungen zu Salman Rushdie, ihrem Verständnis für das drohende Todesurteil durch die Fatwa hagelt es Proteste. Obwohl sie sich für die Leichtfertigkeit ihrer „burschikosen Redensart“ noch im Mai entschuldigte, zweifeln auch internationale Intellektuelle an der Integrität der 73jährigen Orientalistin. Daß sie Begriffe wie „fundamentalistisch“ ebenso wie „Redefreiheit“ in Anführungszeichen schreibt, kreidete ihr zuletzt Jürgen Habermas an: Schimmel habe gegenüber Religionen, die sich mit Staatsgewalt ihren Ausschließlichkeitsanspruch sichern wollen, jede Distanz verloren. Statt die antiislamischen Vorurteile des Westens zu begradigen, habe sie sich fundamentalistische Sichtweisen angeeignet. Kann die Verleugnung von Menschenrechten der Preis für einen Dialog mit der islamischen Kultur sein?

Seit letztem Freitag liest die Friedenspreisträgerin wieder, wovon sie am meisten versteht: islamische Dichtung und mystische Texte. Erst war sie in Gelsenkirchen Ehrengast beim „Märchen- Kongreß“, am Montag hielt Frau Schimmel die Festrede zum 26. Deutschen Orientalistentag in Leipzig: „Im Osten tagt's – von unseres Feuereifers Lichte“, so der Titel in Anspielung auf ein Buch Josef von Hammer-Purgstalls, der im 19. Jahrhundert persische und arabische Literatur übersetzte. Daß ihr Funk und Fernsehen von Vortrag zu Vortrag folgen, stört die gebeugte silbergraue Dame, die ohne ihr üppig gewundenes Tuch schmächtig wirkt, sehr. Und auch mit den angereisten Journalisten möchte sie kein Wort über die Vorwürfe wechseln. Ihr einziger Kommentar ist ein stiller Seufzer darüber, daß die Presse ihr „mit einer solchen Welle des Hasses“ begegnet.

Ohnehin tauge sie nicht zur Medienfigur, ihre Liebe galt immer nur dem Text und der persönlichen Verständigung mit islamischen Kulturen. Diktatoren und religiöse Fanatiker haben sie dabei nicht irritiert, es lag scheinbar in der Natur der Sache. 1988 schrieb sie im Nachruf auf den pakistanischen General Zia al-Haq, der sein Militärregime mit Folter und Mord führte: „Die beiden Reizworte für westliche, demokratische Liberale, ,Militärherrschaft‘ und ,Islam‘, haben jedoch leider zu einem Negativbild des Generals beigetragen. Doch lese man einmal nach, was Goethe in den ,Noten und Abhandlungen zum Westöstlichen Diwan‘ unter den Stichworten ,Einrede‘ und ,Nachtrag‘ über die Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit ,despotischer‘ Regierung in asiatischen Staaten schreibt, die allein unter den obwaltenden Umständen eine einigermaßen stabile Staatsführung ermögliche.“

Trotzdem sind einige hundert OrientalistInnen zum 150jährigen Bestehen der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft angereist. Daß ihr Forschungsfeld nicht aus Mystizismus und lyrischen Lobpreisungen besteht, zeigt das Tagungsprogramm: Die Referate reichen von „Umweltveränderungen beim Diamantenbergbau in Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft“, „Unternehmer als Katalysator des politischen Pluralismus“ oder „Konstruktion des lybischen Nationalismus“ bis zu „Struktur und Wandel einer iranischen Oppositionsgruppe“.

Vom Aderlaß während der Nazi-Periode

Spiritistische Themen wie „Der Schwund des Mediums im Adamawa-Ful und die Redistribution medialer Domänen“ tauchen nur am Rande auf. Überhaupt hat sich das Feld der Orientalistik seit jener Zeit gewandelt, die Annemarie Schimmels eigene Entwicklung geprägt hatte: Das Zusammentreffen mit Orientalisten wie Heinrich Lüders oder August Fischer während der Kriegsjahre in Berlin war „der Lichtblick“ für ihren Werdegang, die Emigration vieler Wissenschaftler „ein Aderlaß während der Nazi-Periode“.

Gelernt hat die emeritierte Professorin aus dieser Zeit nur das eine: Auf den Text kommt es an. Ohne Blick auf die politischen Verhältnisse. Denn die Geschichte der Philologie, so fährt Schimmel in ihrer Rede fort, wurde von Personen wie dem Orientalisten Fleischer geschrieben, „ohne sich mit der Tagespolitik auseinanderzusetzen“. Einer, der es dennoch getan hat, wie Martin Hartmann, wurde entsprechend „von seinen Kollegen angefeindet“. Als Zeuge für die Richtigkeit einer Forschung auf dem Weg des geringsten Widerstands dient ihr Edward Said. Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler hatte in seinem Buch „Orientalism“ die Haltung des Westens kritisiert, weil dieser den Islam nur aus europäischer Sicht beurteile. Der Okzident der Aufklärung konstruiere sich seinen Orient als Spiegel westlicher Ideale. „Wir alle kennen Edward Saids Kritik am Orientalismus, wo er praktisch die gesamte deutsche Orientalistik ausspart – sie paßte nicht in sein Weltbild, daß Orientalisten eo ipso Menschen sind, die den Orient unter dem Kolonialismus in einer bestimmten Weise interpretieren. Die deutsche Orientalistik aber war während des ganzen 19. und einem großen Teil des 20. Jahrhunderts apolitisch.“ Daß Said sein Buch 1978 – kurz nach der Revolution im Iran gegen den vom Westen unterstützen Schah und zehn Jahre vor dem Todesurteil über Rushdie – geschrieben hat, scheint Frau Schimmel in ihrer Verteidigungsrede der reinen Lehre des schönen Wortes nicht zu irritieren. Vielmehr hat sie die totalitäre Rechtsprechung des Ajatollah Chomeini in ihrem Buch „Mystische Dimension des Islam“ (University of North Carolina, 1975) philologisch vorgedacht. Dort schreibt sie im Schlußkapitel: „Die Mystik der Liebe und des Leidens, die den Menschen lehrt, für ein Ziel, das außerhalb seiner selbst liegt, zu leben und zu sterben, ist heute vielleicht die wichtigste Botschaft des Sufismus.“

Ist das der Marschbefehl für tanzende Derwische? Die Härte religiöser Führer jedenfalls wird kaum mehr „durch tiefe Liebe zu Musik und Dichtung gemildert“, wie Schimmel damals schwärmte; und in Zeiten, da in Pariser U-Bahnen Bomben hochgehen, ist der Verweis auf altbekannte europäische Ängste seit den „Türken vor Wien“ der garantiert falsche Pfad zur Erkenntnis. Das Dilemma liegt in der Unwägbarkeit eines Dialogs, wie Schimmel ihn fordert. Zwar soll sich die Forschung mehr einmischen, wenn es um das moderne Bild vom Islam geht. Aber die Kompetenz zur Analyse spricht sie nur denen zu, die vor Ort von koran-festen Lehrern geschult wurden. Gleiches kann nur durch Gleiches erfahren werden – ein Schreckbild der Ethnologie.

Natürlich wundern sich auch zeitgenössische OrientalistInnen über den sorglosen Umgang Schimmels mit dem Problem des gegenwärtigen Fundamentalismus. Professor Dr. Preißler, der die Tagung in Leipzig organisiert hat, bemerkt nach dem Vortrag der „alten Dame der Orientalistik“, daß der gesamte Forschungszweig den Fehler gemacht hätte, viel zuwenig außerhalb von Fachzeitschriften zu publizieren. So könne eine Einzelperson plötzlich stellvertretend in den Mittelpunkt der Kontroverse rücken. Der Fall Schimmel habe gezeigt, daß die Orientalistik allgemein „nicht auf der Höhe der Zeit ist“. Aber gleichzeitig ist er froh, daß die Kontroverse um den Friedenspreis „nur eine Einzelfrage in der großen Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“ darstellt: „Wir müssen glücklicherweise nicht auf alles reagieren, was durch die Medien läuft.“

Dr. Georg Girardet als Festredner für die Stadt Leipzig sah es indes anders. Wie der Krieg in Tschetschenien oder Ex-Jugoslawien geben „manche Entwicklungen im Inneren unserer Gesellschaft Anlaß zur Besorgnis. Ich möchte nur die erbitterten, zum Teil feindseligen Diskussionen um das Kruzifix-Urteil, das neue Buch von Günter Grass und natürlich insbesondere die Entscheidung um den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels nennen. Soviel Intoleranz, Verständnislosigkeit und Bedenkenlosigkeit im Umgang mit dem Unbekannten müssen in höchstem Maße beunruhigend sein.“ Offenbar befindet sich Annemarie Schimmel in guter Gesellschaft.