Moskaus Soldaten tragen keine Strümpfe

Rußlands Generäle klagen über die schlechte Versorgung ihrer Armee. Tatsache jedoch ist, daß sie einen nicht geringen Teil des Verteidigungsetats in die eigenen Taschen stecken  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Die Ärzte in Moskaus Militärhospital Burdenko traf fast der Schlag. Der Patient, 1,68 Meter groß, wog ganze 47 Kilogramm. Diagnose: Unterernährung zweiten Grades. Außerdem Lungenentzündung, Salmonellen und schwere Darmverstimmung. Patient Aljoscha Urodschajew stammt aus Krasnodar im Süden Rußlands. Am 29. Mai wurde der 18jährige eingezogen, zwei Tage später schon nach Mosdok ins operative Zentrum des Tschetschenienfeldzuges geschickt.

Zum Frühstück reichte man ihnen etwas, das aussah wie Grütze, mittags eine Wassersuppe und abends noch einmal das Morgenmenü. Eine Fischkonserve „Delikatesse“ mußten sich acht und mehr Wehrdienstler teilen. Fünf Wochen später landete der völlig Entkräftete im Lazarettzug. Er ist kein Einzelfall. Die Rekruten der russischen Armee führen generell ein jämmerliches Dasein. Noch immer wickeln sie ihre Füße in Lappen, für Strümpfe reichen angeblich die Mittel nicht. Wahrscheinlicher jedoch ist, daß den einfachen Rängen das Selbstverständlichste vorenthalten wird. Kanonenfutter muß man nicht noch üppig ausstatten. Im Offizierskasino am gleichen Ort soll es an nichts gefehlt haben.

Innenminister Anatolij Kulikow kämpft in diesen Wochen an der Haushaltsfront, assistiert vom Versorgungschef der Armee, Wjatscheslaw Sawinow. Dessen Hilferufe wurden überhört, deshalb ging er an die Öffentlichkeit. „Wir schulden Zulieferern, Bäckereien, Fleischfabriken 700 Milliarden Rubel (240 Millionen Mark). Tausende erhalten ihren Sold nicht, weil es uns nicht gelingt, das Geld aufzutreiben.“ Drei Monatsgehälter sei man den Soldaten in Tschetschenien schuldig geblieben. Und das Armeeorgan Krasnaja Swesda klagte: „Verzögerte Zahlungen an Soldaten und Offiziere erschüttern die gesamten Streitkräfte.“

Von unglaublichen Schweinereien berichtete auch die Wochenzeitung Moskowskije Nowostije. Für den kaukasischen Feldzug gedungene Söldner gehen häufig leer aus. Mit diesen „Kontraktniks“ schloß man Dreimonatsverträge. Den Sold, so die Zusage, wollte man in der Zwischenzeit an die Familien auszahlen. Allerdings war in den Verträgen der Betrag nicht genannt. Lediglich der Vermerk: Auszahlung „auf Grundlage des Gesetzes“. Das Geld kam aber nicht an. Wollten die Soldaten nach abgelaufener Frist den Dienst quittieren, mußten sie den Vertrag selbst annullieren. Somit entfiel jeglicher Anspruch. „Was die Kommandeure uns angetan haben, kann kein Geld der Welt wiedergutmachen“, meinte ein „Kontraktnik“. Wie hungrige Ratten seien sie herumgestreift, dreckig und stinkend, während höhere Grade mit Einheimischen Geschäfte gemacht und gesoffen hätten. Als sie einen Offizier beim Verhökern eines Maschinengewehrs an den Feind erwischten, nahmen sie ihn fest und brachten ihn ins Hauptquartier. Folgenlos, er wurde in seine Heimatkaserne abgeschoben.

Bisher haben die Militärs mit ihren Klagen keinen Erfolg. Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Duma, Sergej Juschenkow, wirft ihnen sogar „Arglist“ vor. Die Generäle seien selbst Schuld an der schlechten Versorgungslage. Solange die Armee nicht bereit sei, ihre Bücher zu öffnen, könne sie nicht mit weiteren Subventionen rechnen. Ähnlich argumentierte ein stellvertretender Wirtschaftsminister. Im letzten Jahr wurden der Armee 50 Billionen Rubel zugebilligt. Damals veranschlagte das Verteidigungsministerium jedoch 170.000 Rubel für ein Paar Soldatenstiefel, die nicht mehr als 20.000 kosteten. Kommentar: „Solange sich die Armee von der Gesellschaft abschottet, kann keiner sicher sagen, ob für sie viel oder wenig ausgegeben wird.“

Korruption in den Streitkräften kann heute in Rußland keinen mehr erschüttern. Die ehemalige Westgruppe der Streitkräfte in Deutschland lieferte ein leuchtendes Beispiel. Soeben kam sie wieder ins Gerede. Nach Informationen der Moskowskije Nowostije überwiesen die Chefs der Handelsabteilung des Verteidigungsministeriums, General Zarkow und die Obersten Filipow und Belij, aus Geldern der Westgruppe 30 Millionen Mark an die Bank „Wosroschdjenije“ zugunsten der Lebensmittelfirma Plada. Weder waren Fristen noch Preise der Lieferungen mit dem Oberkommando abgestimmt worden.

Kalkulationen ergaben, daß die veranschlagten Preise für Kaffee, Kakao, Fleischkonserven und Süßigkeiten um 100 Prozent über den Einzelhandelspreisen in Moskau liegen. Kann sich das Verteidigungsministerium soviel Großzügigkeit leisten angesichts seines riesigen Haushaltsdefizits? Viele Russen beantworten dies zynisch: Zumindest so lange, wie sich ausgehungerte Soldaten in Tschetschenien noch über Hundekadaver hermachen.