Verlorene Gewißheit

■ Die Brücken am Fluß als Ort einer schicksalsschweren Liebe

Eine Mutter ist gestorben. Ihre alte Farm in Iowa steht leer, und zur Testamentseröffnung sind die längst erwachsenen Kinder eingetroffen, die mit jedem Gegenstand des Familienhauses durch zahlreiche Geschichten verbunden scheinen. Zuhause, das bedeutet Vertrautheit und zumeist die sicherste aller Gewißheiten: sich auszukennen.

Aber die Farmerin Francesca Johnson (Meryl Streep) war nicht die Frau, für die sie die Familie bis zu ihrem Tod gehalten hatte. In ihrem letzten Willen offenbart sie den Kindern einen Ehebruch: Eine Liebe, die – obschon nur vier Tage im Jahr 1965 – jeden weiteren Tag ihres Lebens begleitet hatte. Das Bild der Hausfrau, die ihre Energie einzig der Familie widmet und deren persönliches Glück untrennbar mit dem familiären verknüpft ist, erhält bereits nach wenigen Filmminuten einen jähen Riß – die Kinder sehen sich Jahrzehnte nach dem Betrug der Ehefrau nun selbst um ihre Mutterikone betrogen.

Vier Tage dauerte die Liebesbeziehung zwischen Francesca Johnson und dem Fotografen Robert Kincaid (Clint Eastwood), der ihr auf einer Fotoreportage begegnete. Für diese Zeit war Francesca allein auf der Farm und bereit ein neues Leben zu beginnen, doch als Kinder und Ehemann zurückkehrten, hatte sie nicht die Kraft, sich für Robert zu entscheiden: „Then you came back,“ erklärt sie, „and with you my life of details.“

So wird eine alte Brücke, als Francescas und Roberts Treffpunkt das Sinnbild ihrer vier Tage, zum Inbegriff jenes Bruchs des alten und zugleich zum Symbol eines neuen Bildes der Francesca Johnson. Die spürbare Tragik dieser verlorenen Liebe ihrer Mutter wird den Kindern wichtiger als der Verlust ihres Mutterideals. Darüber wird der ambivalente Umgang mit Legenden sichtbar, der sich wie ein roter Faden durch die Regie- und Schauspielkarriere Clint Eastwoods zieht. Mit der Zerstörung der Mutter als Familienbesitz findet auch hier die Demontage eines Mythos statt.

Aber so wie auch in Erbarmungslos oder Perfect World Eastwoods Dekonstruktion von Mythen denselben zugleich genügend Raum und Zeit läßt zu wirken, ist auch sein Die Brücken am Fluß nicht allein durch Demontage bestimmt. Über die ergreifend inszenierte Rückschau auf eben jene vier Tage, die noch über den Tod Francescas hinaus wirksam bleiben, gerät dieser schicksalschwere Zeitraum selbst zu einer Art Legende, die ebenso wie das obsolete Mutterideal greif- und nutzbar scheint.

Jan Distelmeyer