Magere Zeiten

Nach den produktiven achtziger Jahren haben die chinesischen Schriftstellerinnen ihre beherrschende Stellung in der Literatur eingebüßt  ■ Von Tienchi Martin-Liao

Die letzten fünf Jahre waren eine magere Zeit für die chinesische Literatur im Vergleich zu den achtziger Jahren. Sind die Auswirkungen des Massakers von 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens nach wie vor der einzige Grund, weshalb die Zahl der Sinologiestudenten und -studentinnen an deutschen Hochschulen drastisch zurückgegangen ist, obwohl doch die Wirtschaftsbeziehungen immer enger werden? Und erklärt die brutale Unterdrückung der Studentenbewegung, warum die Neugier des Westens auf die kulturelle Entwicklung Chinas so sehr geschwunden ist?

Derart monokausale Erklärungen sind nicht selten zu hören. Tatsächlich aber ist die chinesische Literatur selbst seit geraumer Zeit in einem recht sterilen Zustand. Um die Autorinnen der achtziger Jahre, die auch bei uns bekannt wurden, ist es stiller geworden. Doch die Repressalien des Regimes in Peking sind nur einer von vielen Gründen für diese Entwicklung.

Exil als stummer Ort

Sind die prägenden Autorinnen am Ende ihrer literarischen Schöpferkraft? Manche Autorinnen haben sich verzweifelt auf die Suche nach neuen Themen begeben, haben versucht, ihre Plots, ihren Stil und ihre Sprache zu verändern. Überaus deutlich wird das etwa bei Zhang Jie, die die Korruption des kommunistischen Systems und damit zusammenhängend die Degeneration der Menschlichkeit mit künstlich verdrehter Sprache voller Spott und Satire in Geschichten wie beispielsweise „Solange nichts passiert, geschieht auch nichts“ dargestellt hat. Auch Wang Anyis neue Erzählungen, wie etwa „Der heilige Altar“ zeugen von den Spuren des Kampfs gegen sich selbst und damit von den Mühen der Autorin, sich von der „Wundenliteratur“ der achtziger Jahre abzunabeln.

Die ins Exil gegangenen Autorinnen haben kaum etwas Nennenswertes geschrieben – Folge einer neuen, entfremdeten Lebenssituation, auf die sie in keiner Weise psychisch vorbereitet waren. Das gilt beispielsweise für die in den USA lebende, scharf beobachtende Reporterin und Dramaturgin Zhang Xinxin oder die nach dem Abschluß ihres Buches „Ein Wintermärchen“, das ihre qualvolle Autobiographie beschreibt, verstummte Yu Luojin, die in Deutschland Zuflucht gefunden hat. Manche chinesischen Autorinnen im Exil haben sich dem biographischen Genre zugewandt – und sind darin steckengeblieben. Als Beispiele dafür können Yu Luojin oder auch Zhang Rong mit ihrem Erfolgswerk „Wilde Schwäne“ gelten. Ai Bei legt dar, welches Schicksal sie als nicht offiziell anerkannte Tochter des verstorbenen Ministerpräsidenten Zhou Enlai durchgemacht hat. Ihre Reportage-Biographie „Es fällt mir schwer, ihn Vater zu nennen“ hat für Furore sowohl in der Parteibürokratie als auch in Chinas literarischer Szene gesorgt.

Die Rüpelin Liu Suola

Die in London lebende Autorin Liu Suola hat 1993 in einer wehleidigen Ansprache in Hongkong geklagt, chinesische Literatur könne letztlich nur von Chinesen verstanden werden. Ausländer, die die Kulturrevolution oder den Krieg gegen Japan nicht erlebt hätten, könnten literarische Werke dieses Kulturkreises auf keinen Fall begreifen und schätzen.

Liu Suola, eine ehemalige Musikstudentin aus Peking, hat sich in den letzten Jahren zwischen Unterhaltungsmusik und Literatur bewegt und ihren Lebensunterhalt durch Auftritte in Popkonzerten verdient. Große Beachtung fanden ihre 1993 und 1994 ins Englische übersetzten zwei Erzählbände. Liu Suola ist eine der wenigen Autorinnen, die das veränderte Selbstbewußtsein der jungen Generation Chinas erfolgreich in der Literatur festgehalten haben.

In ihrer Erzählung „Du hast keine andere Wahl“ beschreibt sie sarkastisch und knapp eine Gruppe Musikstudenten in Peking. Die jungen Menschen fühlen sich nicht von der kulturrevolutionären Vergangenheit belastet und leben ausschließlich in der Gegenwart. Die Personen wirken wie flache, austauschbare Schattenfiguren ohne innere Entwicklung. In späteren Texten wie „Chaos et cetera“ schreibt Liu wie eine Bauhaus-Architektin: London, Peking, Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Träume werden in abstrakter Absurdität durcheinandergemischt. Liu Suolas spielerische, zynische Haltung gegenüber dem Medium Literatur erinnert dabei sehr stark an den „Rüpel- Schreiber“ Wang Shuo. Wangs Texte sind Schaum, Produkte der Schnellebigkeit des chinesischen Übergangs und vielleicht auch Symbole des Fin de siècle, des Pekinger Lebens in den neunziger Jahren.

Alptraumwelt der Can Xue

Eine wahrhaft einmalige Sonderstellung in der Gegenwartsliteratur Chinas nimmt die Autorin aus der Provinz Hunan Can Xue, Jahrgang 1953, ein. Man kann sie weder in die Schubladen des Modernismus noch des Postmodernismus, schon gar nicht in die Kästchen der „Wundenliteratur“ oder der „Literatur der Suche nach den Wurzeln“ einordnen. Can Xue läßt ihre Protagonisten in einer Zwischenwelt zwischen Wirklichkeit, Phantasie und Alpträumen balancieren. Sie sind fast alle geisteskrank, physisch verkrüppelt oder auch beides zugleich. Erbarmungslos beschreibt Can Xue von Angst und Wahnsinn getriebene Schizophrene, Sadomasochisten und Voyeure, von denen penetranter Körpergeruch ausgeht oder faules Fleisch herabhängt, die krankhaft zucken oder sich mechanisch roboterartig bewegen. Selten findet man zusammenhängende Handlungen und verständliche Dialoge, obwohl die Erzählungen äußerlich in einem Kontext von Ehepaaren, Familien, Nachbarschaften oder Arbeitsverbindungen ablaufen. In dieser Weise schrieb Can Xue schon ihre ersten Erzählungen „Die Straße des gelben Schlamms“, „Die gealterte Wolke“ und den Roman „Vorführungen des Ausbrechers“.

Can Xue schildert ihre Kindheit und Jugend so: „1957 wurde mein Vater als Rädelsführer der ,Anti- Partei-Clique‘ in der Neuen Hunan Zeitung als Ultrarechter geschmäht und zur ,Umerziehung durch Arbeit‘ an die Pädagogische Hochschule in Hunan entsandt. Mutter wurde in ein Arbeitslager in Hengshan geschickt. 1959 war unsere neunköpfige Familie aus ihrem ursprünglichen Wohnort, dem Verlagshaus, vertrieben. Wir wurden in eine Zweizimmerwohnung von zirka zehn Quadratmetern am Fuße des Yue-Berges eingepfercht. Die durchschnittlichen Unterhaltskosten für jedes Familienmitglied mußten wir auf die unmögliche Summe von weniger als zehn Yuan herabschrauben. Dazu kam auch noch die Naturkatastrophe, auf die sich die Propaganda des Regimes zurückzog [also die Hungersnot 1959–1962, die Red.]. Vater verfügte weder über Ersparnisse, noch bekam er irgendwelche andere Unterstützung. Die ganze Familie kämpfte mit dem Tod. [...] Außer mir wurden auch alle meine Geschwister in die Berge und aufs Land verschickt. Vater wurde eingesperrt, Mutter in die ,Siebte- Mai-Kaderschule‘ zur Umerziehung getrieben. Die Wohnung wurde uns weggenommen. Ich fand mutterseelenallein Unterschlupf in einem dunklen Zimmer. Zwischendurch konnte ich mich in einer Treppenhausecke ganz am Ende des Flures einnisten, um so meinen Vater mit den notwendigsten Dingen zu versorgen. 1970 fand meine ältere Schwester aufgrund gewisser Beziehungen einen Job für mich in einer sogenannten ,Straßenfabrik‘. Ich arbeitete daraufhin zehn Jahre lang als Stahlarbeiterin und Monteurin ...“

Ist Can Xues grausamer Schreibstil also Vergeltung für die Schrecken der Vergangenheit oder eine Art Selbsttherapie? Eine solche Erklärung verneint die Schriftstellerin mit Nachdruck. In einem im Juli 1995 in der Hongkonger Monatszeitschrift Kaifang veröffentlichten Interview betont Can Xue, daß sie am Schreibtisch mit „Gewalt“ eine Phantasiewelt aufgebaut habe. „Ich habe eine Abneigung gegenüber der gewöhnlichen Welt. [...] Ich habe Antipathien gegen die banale Sprache und den banalen Jargon [...] Ich kreiere mein Ambiente als einen Gegenpol zur gewöhnlichen Welt [...] Ich meine, daß meine eigene Welt schön ist. Doch meine Empfindungen sind anders als die der normalen Menschen. Ich sehe die Welt durch die Augen eines Kindes. In Kinderaugen gibt es keinen eigentlichen Unterschied zwischen schön und häßlich. [...] Ich habe zum Beispiel in der ,Straße des gelben Schlamms‘ über Fäkalien, Würmer und über alle möglichen häßlichen Dinge geschrieben, wenn man aus der Sicht normaler Leute urteilt. Ich finde das alles aber gar nicht häßlich.“

Inzwischen liegen japanische, englische und einige deutsche Übersetzungen von Can Xues Werken vor. Trotzdem lautet das Fazit: Alle chinesischen Autoren sind von Medieneinflüssen und Kommerzdenken an den Rand gedrückt worden. Die Frauen haben zugleich ihre beherrschende Stellung in der Literatur wieder eingebüßt: Männer wie der in weiblicher Psychologie brillierende Su Tong, aber auch die Epiker Mo Yan, Liu Heng, Ma Yuan oder Ge Fei haben ihnen einstweilen den Rang abgelaufen. Das ist in der internationalen Literaturwissenschaft anders. Feministische Perspektive und feministische Literaturtheorie haben sich durchgesetzt. Spezialistinnen haben sich eigene Bastionen erkämpft durch Anthologien (Anne Wedell-Wedellsborg, Wendy Larson) und durch die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift, Positions.

In „Auflösung der Abteilung Haarspalterei“ von Helmut Martin und Christiane Hammer (Hg.) ist eine ausführliche Bibliographie deutscher und englischer Übersetzungen von chinesischer Literatur des 20. Jahrhunderts enthalten (Rowohlt, Reinbek 1991).

Can Xue: „Die Hütte auf dem Berg“, in „Chinablätter“ Nr. 14; Can Xue: „Im weiten Land“, „Der Stier“, „Ein bilharziöser Zwerg“, in „Hefte für Ostasiatische Literatur“, Nr. 8, 15, 18.; Dai Houying: „Die große Mauer“, Hanser, München 1987; Liu Suola: „Chaos and All That“, Hawaii 1994; Zhang Rong: „Wilde Schwäne“, Droemer/Knaur, München 1991; Zhang Xinxin: „Peking Menschen“, Diederichs, Köln 1986