Blutorgien und Tattergreis

■ Moses und Aron zur Spielzeiteröffnung am Theater am Goetheplatz/ Ausgiebige Buhrufe für die Inszenierung, Jubel für Orchester und Chor

Während der Volksverführer Aron seine Notdurft verrichtet, brütet sein Bruder Moses über dem göttlichen Auftrag. Das jüdische Volk, das Moses aus der ägyptischen Gefangenschaft führen will, besteht hier aus Werderspielern, Krankenschwestern, Hausfrauen, Bauarbeitern. Sie alle fragen nach dem Warum, diesem Moses zu folgen, haben sie doch kein sinnlich erfahrbares Gottessymbol. Die heidnische Orgie, in die sie hineintreiben, ist pralles, barockes Theater. Ihr „goldenes Kalb“ erscheint als ein großer roter Zeigefinger, Führungs-und Phallussymbol für das ausschweifende Treiben der Menschen.

Die 1933 entstandene, nicht vollendete Oper „Moses und Aron“ hielt der Komponist Arnold Schönberg für „nicht aufführbar“. Einmal wegen der für Chor und Orchester schier unlösbaren technischen Schwierigkeiten, zum anderen vielleicht wegen des Themas selbst: Moses will den neuen Gott verkünden, sich aber an dessen Gesetz des Bilderverbotes halten, sein Bruder Aron, auch das Alter Ego von Moses, setzt auf sinnliche Umsetzung des Gottesgedankens durch Visualisierung.

Jede Aufführung dieses Werkes, eines der größten des 20. Jahrhunderts, bedeutet selbst für einen großen Opernbetrieb eine enorme Herausforderung und steht zwei grundsätzlichen Problemen gegenüber: dem biblischen Bilderverbot als Thema einer Oper und Schönbergs unzähligen detallierten szenischen Anweisungen.

Der neue Bremer Generalmusikdirektor Günter Neuhold eröffnete seine erste Spielzeit mit diesem erst 1954 uraufgeführten Werk: musikalisch eine überragende Leistung. Präzision und Transparenz hielten sich die Waage und führten bei der kammermusikalischen Partitur zu einer außerordentlichen Expressivität, die jeden Vorwurf zunichte machte, Schönberg habe mit seiner Zwölftontechnik „Schreibtischmusik“ geschrieben. Eine ebensolche Leistung ist auch dem Chor (Theo Wiedebusch) zu bescheinigen: dessen Partie zählt in der Geschichte der Oper wohl zu den schwersten überhaupt.

Angesichts unserer Medien- und Computersimulationswelt ist das Thema Bilderverbot entweder neu zu behandeln oder es erledigt sich. Der junge Regisseur Michael Simon entschied sich für letzteres und umschiffte damit die „rein religionsphilosophische Ebene“ (Arnold Schönberg 1951). Der jüdische Gott irrt als ein Tattergreis auf der Bühne umher.

Simons Thema ist die politische Dimension des Stückes, die totale Verführbarkeit des Volkes. Da entfaltete Simon eine unbändige Bildphantasie zwischen Parodie und Stilisierung. Fette Pappfiguren und skurrile Gestalten bevölkern die Bühne. Auch neue Figuren erfindet der Regisseur, darunter den Ephraimiten (Ron Peo), den erschlagenen Jüngling (Erwin Feith) und die stets präsenten „schrecklichen Schwestern“, die den erschlagenen Jüngling ausweiden und seine Eingeweide genüßlich essen. „Im Fernsehen kann man wenigstens umschalten“, rief eine Frau erbost aus dem Publikum, und die Türen knallten.

Die provokante, aber auch mutige Inszenierung überzeugt nur teilweise, weil sie sich neben dichten und nachhaltigen wirkenden Bildern – wie zum Beispiel der gesichtslos gewordenen Menge – über Essentielles hinwegsetzt und Plattheiten leider nicht ausläßt, etwa wenn Schrifttafeln verkünden „2:0 für Aron“: Hinter so manchem schienen die Monty Pythons Pate gestanden zu haben.

Gesanglich mit belcanteskem Schmelz und szenisch großartig differenziert Graham Sanders als Aron. Er liebt, verachtet und verführt das Volk. Karsten Küsters als Moses: eine einsame und „unmenschliche“ Gestalt, wie sie der Komponist wünschte. Die Inszenierung wurde ziemlich einhellig ausgebuht – das hat sie nicht verdient – , Jubel für die musikalische Wiedergabe.

Ute Schalz-Laurenze

Weitere Aufführungen am 30.9., am 3.,13.,15. und 30. Oktober. Im Rangfoyer findet jeweils um 19.15 Uhr eine Einführung statt.