Sind jetzt wieder mal die Mütter schuld?

■ „Nero Kaiserkind, eine Art Oper“ von Peter Lund und Niclas Ramdohr in der Neuköllner Oper

Kaiser Nero rauft sich die Haare. „Ich kann mich an nichts erinnern“, schreit er ein ums andere Mal. Schuld an dieser staatsmännischen Vergeßlichkeit ist nicht die Alzheimersche Krankheit; vielmehr sind es frühkindliche Traumata, die den Kaiser beuteln.

Doch schon naht der Textautor (Peter Lund) persönlich, um den Schleier der Unwissenheit von dem geistig Umnachteten zu reißen. Lund, der sich abwechselnd als geschwätziger Conférencier oder als Alter ego des jungen Thronnachfolgers gebärdet, führt diesen – und damit auch uns – zurück in des Kaisers Kindheit.

Da ist zuallererst Mama Agrippina (Anna Kube, Mezzosopran), eine wenig mütterliche Femme fatal mit Schlitz im Kleid, die für den zukünftigen Kaiser das ein oder andere menschliche Hindernis beseitigt. Da ist Seneca (Heinz- Georg Schramm, Baß), ein philosophierender Dandy, der seine erzieherische Aufgabe recht lässig nimmt und lieber mit der flotten Mutter ins Bett geht. Und Octavia (Antje B. Schmidt, Sopran), die unvermeidliche Braut. Dick und dumm ist sie, becirct aber ihren künftigen Gatten mit wortlosem (Sirenen-?)Gesang.

Ränke und Schwänke geschehen am Hofe, und so manch geistreicher Regieeinfall belebt die Szenerie. Doch auch die witzigen Dialoge und die wundervoll grellen Kostüme (Daniela Thomas) täuschen auf Dauer nicht darüber hinweg, daß die Musik der Handlung nicht gewachsen ist.

Eine „Musik zwischen den Stühlen, also dort, wo Experimente stattfinden“ war angekündigt. Doch leider – keine Experimente! Der Komponist Niclas Ramdohr beschränkt sich auf Stilkopien, die meistens Aufguß von Bewährtem sind. Das ist an ironischen Stellen adäquat, wenn komödiantische Szenen mit Salonmusik oder dramatische Momente mit minimalistisch repetierenden Streichern illustriert werden.

Die Arien hingegen, die den Blick nach innen wenden und Gefühle animieren sollen, geraten durch biedere Effekthaschereien vollends abgeschmackt – unfreiwillige Parodien des lyrischen Ichs, das in sentimentaler Prosa erstarrt.

Schade. Denn die SängerInnen – sogar der Regisseur singt die eine oder andere Partie – sind durch die Bank richtig gut. Nicht nur gesanglich, sondern auch in der Darstellung. Am schönsten ist Nero (Guido Kleineidam, Bariton). Kindlich naiv, verspielt – und so charmant. Spätestens hier jedoch entstehen grundlegende Zweifel. Was fällt der Regie ein, diesen Kaiser, der wie ein Berserker gegen die christliche Minderheit wütete, als einen niedlichen Knaben darzustellen? Als ein süßes Kind, das, ödipal befangen, eigentlich so nett geworden wäre, wenn Mama und Seneca es nicht immer geschurigelt hätten? Sind jetzt doch die Mütter wieder schuld?

Täter auch als Opfer darzustellen, ist durchaus legitim, aber immer heikel, selbst dann, wenn es in ausgewogener Form geschieht. Hier jedoch, wo es einzig der Unterhaltung dient, wo eine aufdringlich emotionale Musik die Reflektion verkleistert und vor lauter Oper gar keine eigene Auseinandersetzung möglich scheint, gerät das Ganze auf die schiefe Bahn. Nero – Kaiser – Kind. Ist doch alles nicht so ernst. Oder doch? Christine Hohmeyer

Bis 22.10., Do-So, 20 Uhr, Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131-133