Aus Rot-Grün gelernt?
: Jeder seines eigenen Glückes Schmied?

■ taz-Serie zu den Erfahrungen der rot-grünen Koalition 1989 / Peter Strieder über die neuen Grünen

Peter Strieder ist Bezirksbürgermeister von Kreuzberg und wird dem linken Flügel der SPD zugerechnet.

Eine SPD-geführte Koalitionsregierung mit den Grünen könnte die in der Großen Koalition versteinerten Verhältnisse Berlins in Bewegung bringen. Der ökologische Umbau der Stadt bekäme eine neue Chance. Eine Neuauflage der ersten rot-grünen Regierung Berlins aus dem Jahr 1989 wäre es dennoch nicht. Allein schon deshalb, weil die handelnden Personen zum Teil andere sind und auch nicht nur, weil sich die Bedingungen Berliner Politik seit 1990 dramatisch verändert haben. Entscheidend ist vielmehr, daß es die Alternative Liste Berlin nicht mehr gibt und mit Bündnis 90/Die Grünen eine weitgehend neue Partei entstanden ist.

Mit der Vereinigung Berlins hat auch die Sozialdemokratie wesentliche personelle und inhaltliche Veränderungen erfahren. Viele ehemals so bedeutende Westberliner Spezialthemen sind obsolet geworden. Aus den Analysen der Wahlen der vergangenen Jahre läßt sich herauslesen, daß die Klientel von Bündnis 90/Die Grünen eher jung ist, keine Konkurrenzängste gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten hat, über eine bessere Ausbildung verfügt und am politischen Geschehen überdurchschnittlich interessiert ist.

Anders ausgedrückt: Bündnis 90/Die Grünen setzen auf jüngere, qualifizierte Erwerbsfähige, die von einer wirtschaftlich günstigen Entwicklung und einem Wachstum der Beschäftigung am ehesten profitieren. Die SPD- Wählerschaft dagegen ist eher älter, lebt im Familienverbund und in schlechteren Wohnverhältnissen und gehört nicht zu den Aufsteigern.

Diese unterschiedlichen Wählerschaften der beiden Parteien prägen notwendig auch ihre Politik. Während die SPD an Vollbeschäftigung und Sozialstaat festhält, setzen die Grünen auf Monetarismus, Geldwertstabilität und eine „Kultur der Eigenverantwortlichkeit“ (Köppl). Angesichts der Finanznot Berlins wird dieser bisher weitgehend verdeckte ideologische Streit zum zentralen Auseinandersetzungspunkt einer Regierungszusammenarbeit von SPD und Grünen werden.

Weder eine moderne Verkehrspolitik noch die Förderung alternativer Energien, weder die Kulturpolitik noch eine liberale Innenpolitik und eine humane Ausländerpolitik werden die Parteien auseinandertreiben. Die entscheidende politische Differenz wird sich an der Frage der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme entfalten. Und das ist zugleich die Chance der SPD.

Auch in der Auseinandersetzung mit den Grünen kann sie deutlich machen, daß sie sich mit der Zweidrittel-Gesellschaft nicht abfindet, daß sie nicht bereit ist, den sozialen Wohnungsbau aufzugeben, Programme des Zweiten Arbeitsmarktes zu kürzen und die sozialen Betreuungsangebote einzuschränken. Das alles wäre notwendig, würde sich die grüne, liberale „Kultur der Eigenverantwortlichkeit“ durchsetzen.

Die Grünen behaupten, es werde mit ihnen keine weitere Erhöhung der Schulden geben, die SPD müsse vielmehr ihre Tradition der Flucht in die Verschuldung aufgeben, die Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst müßten kürzer werden, damit weniger Löhne zu zahlen sind, die konsumtiven Ausgaben im Landeshaushalt müßten drastisch verringert werden. Was bedeutet das anderes, als den Abbau von staatlichen Angeboten wie Kindergärten, Zuschüssen für Sportvereine, das Ende der Defizitfinanzierung für Bäder oder Kultureinrichtungen? Was soll die „Kultur der Eigenverantwortlichkeit“ letzten Endes anderes sein als die Parole, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied.

Und was bedeutet Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich in den unteren und mittleren Einkommensgruppen im öffentlichen Dienst anderes als Einkommensverluste für viele, die jetzt schon angesichts steigender Mieten und Lebenshaltungskosten kaum hinkommen? In der Koalition mit den Grünen kann sich die SPD profilieren als Partei, die der Moderne gegenüber aufgeschlossen ist, gesellschaftliche Weichen neu stellt und gleichzeitig darauf achtet, daß die sozialdemokratische Vision der solidarischen Gesellschaft nicht unter die Räder der bedingungslosen Modernisierer gerät. Peter Strieder

Wird fortgesetzt mit einem Beitrag von Harald Wolf (PDS)