Vertreibung aus dem Reiche Gaddafis

Tausende PalästinenserInnen müssen Libyen verlassen. Angeblich will Gaddafi gegen das Autonomieabkommen zwischen Israel und PLO protestieren; über die wahren Gründe wird spekuliert  ■ Aus Tripolis Thomas Dreger

Als die Familie Abdelhadi vom Verwandtenbesuch aus dem Ausland nach Hause zurückkehrte, traute sie ihren Augen nicht. In ihrer Wohnung in der libyschen Hauptstadt Tripolis hatten sich Fremde eingerichtet. „Das ist jetzt unsere Wohnung“, erklärte ein Libyer den PalästinenserInnen. Der libysche Staat habe das so beschlossen. Wenige Stunden später saßen die Abdelhadis in einem Bus in Richtung ägyptische Grenze. Was sie sich in zwanzig Jahren im Reich Muammar al-Gaddafis aufgebaut hatten, mußten sie zurücklassen. Seit einer Woche sitzt die fünfköpfige Familie in einem Zelt im Niemandsland zwischen Libyen und Ägypten.

Angeblich, um gegen das von ihm als „Kapitulation“ gegeißelte Autonomieabkommen zwischen Israel und der PLO zu protestieren, will Gaddafi alle in dem Land lebenden PalästinenserInnen nach Palästina schicken. Laut UN- Flüchtlingswerk UNHCR hat die libysche Führung in den letzten Wochen rund 5.000 PalästinenserInnen ausgewiesen. Insgesamt sollen etwa 30.000 PalästinenserInnen in dem nordafrikanischen Land leben, zum Teil in der zweiten und dritten Generation.

Die meisten arabischen Staaten weigern sich, die Vertriebenen aufzunehmen. Am Mittwoch forderte die libysche Führung daher das UNHCR auf, bei Sallum an der ägyptisch-libyschen Grenze ein Flüchtlingslager zu errichten. Nachdem Anfang des Monats ein Schiff mit 350 PalästinenserInnen aus Libyen in Beirut vor Anker gegangen war, unterbrach die Regierung Libanons die Schiffahrtsverbindung zu Libyen. „Menschlichen Abfall“ nannte der libanesische Tourismusminister Nikola Fatusch die ungebetenen Gäste.

Bei der palästinensischen Autonomieverwaltung im Gaza-Streifen und in der Westbank hat die Aussicht, einige Tausend Menschen mehr aufzunehmen, Unruhe ausgelöst. „Wir sind ohnehin schon überall mit Leid konfrontiert“, stöhnte PLO-Chef Jassir Arafat Anfang der Woche. „Ich flehe meinen Bruder, Präsident Muammar, an, die richtige Entscheidung zu treffen!“

Gaddafis Initiative hat auch libysche Institutionen überrumpelt. Es handele sich nur um einen Vorschlag Gaddafis, erklärten noch in der letzten Woche Mitglieder eines lokalen Revolutionskomitees. Vor der Umsetzung müsse noch in den zahlreichen lokalen Komitees darüber beraten werden. Nun werden die Komitees wohl im nachhinein den Vollzug absegnen dürfen — eine nicht unübliche Praxis in der libyschen „Volksmassenrepublik“, in der Gaddafi kein Regierungsamt hat, wohl aber das Sagen.

Von dem Rausschmiß sind nicht nur PalästinenserInnen betroffen. Bereits im Juni mußten 350 SomalierInnen und andere SchwarzafrikanerInnen Libyen verlassen, Anfang September wurden 7.000 ÄgypterInnen ausgewiesen; laut Angaben aus Khartum warten derzeit 15.000 SudanesInnen im libyschen Grenzort Kufra auf ihre unfreiwillige Ausreise.

Beobachter in Tripolis rätseln unterdessen über die Motive Gaddafis. Ohne ausländische Arbeitskräfte sei Libyen schlicht nicht funktionsfähig, meinen Diplomaten. Wieviele Fremde in dem etwa fünf Millionen EinwohnerInnen zählenden Staat leben, weiß niemand genau, denn die meisten von ihnen sind illegal eingereist. Vorsichtige Schätzungen gehen von 1,5 Millionen aus, andere von 2,5 Millionen.

Die AusländerInnen erwarteten in dem einst prosperierenden Ölstaat Libyen ein besseres Leben, als zu Hause. Doch der gesunkene Ölpreis und ein seit 1992 auf dem Land lastendes UN-Embargo, mit dem Libyen zur Auslieferung der angeblichen Lockerbieattentäter gezwungen werden soll, haben den Staat an den Rand der Pleite gebracht. Das könnte der Grund für die Ausweisung sein, glauben Beobachter. Andere meinen, daß diese Maßnahme sich gegen politisch unliebsame Fremde richtet. Vor allem der Rausschmiß von SudanesInnen und ÄgypterInnen nährt Vermutungen über einen Konflikt mit Islamisten.

Im Juni hatten Islamisten in der ostlibyschen Hafenstadt Bengasi einen bei seiner Festnahme verletzten Gesinnungsgenossen aus einem Krankenhaus befreit. Daraufhin verhafteten die libyschen Behörden etwa 1.000 Personen. In Bengasi und Tobruk stürmten Militärs zwei von Islamisten bewohnte Häuser. Zwischen 30 und 50 Menschen starben dabei, darunter etliche libysche Soldaten. Eine offiziell als „harter Kern“ der Islamisten eingestufte Gruppe von 400 Personen wurde nach Tripolis geschafft und sitzt dort seither in Kerkern. Die libysche Führung macht für die Unruhen inoffiziell Agenten des islamistisch regierten Sudan und ägyptische Muslimbrüder verantwortlich.

Welches Schicksal Gaddafi den Verhafteten und anderen Widersachern zugedacht hat, ließ er Anfang September durchblicken. „Verräter werden physisch liquidiert“, sagte er. Wenige Tage nach Gaddafis Rede berichteten aus Libyen kommende Reisende in Ägypten von neuen Schießereien in Bengasi. In Tripolis kursieren seither Gerüchte über ähnliche Ereignisse in anderen Städten des Landes.

Um der islamistischen Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen, versucht Gaddafi den libyschen Staat verstärkt als Hort des Islam zu präsentieren. Die Zahl religiöser Institutionen hat erheblich zugenommen; zumeist läßt es sich der als „Bruder der Führer“ gepriesene de-facto- Staatschef nicht nehmen, diese persönlich einzuweihen.

Mitte September lud Gaddafi zu einem internationalen Sufi-Kongress nach Tripolis ein. Höhepunkt war eine Demonstration auf dem zentralen Grünen Platz der Hauptstadt. Islamische Mystiker aus aller Welt priesen dort Libyens Funktion als Bollwerk gegen den Islamismus. An die PalästinenserInnen gerichtet, betonten sie deren „Pflicht zur Rückkehr in ihre Heimat.“