Der Zug war pünktlich – der Fahrplan nicht Von Ralf Sotscheck

Können ganze Eisenbahnzüge unterwegs einfach verschwinden? Offenbar – „Railtrack“ macht's möglich. Das Unternehmen ist eins jener Spaltprodukte, die nach der Zersplitterung der staatlichen Bahngesellschaft „British Rail“ in privatisierungsfreundliche Häppchen entstanden sind. „Railtrack“ ist nicht nur für das Schienennetz und die Infrastruktur zuständig, sondern auch für die Fahrpläne. Und das ist bei einem so großen Land wie dem Vereinigten Königreich eine ganz schön schwere Aufgabe.

„Railtrack“ ist daran gründlich gescheitert. Ihr „Great Britain Passenger Railway Timetable“, ein Fahrplanwälzer von 2.100 Seiten, liest sich wie das Drehbuch für einen Katastrophenfilm: Wer die Strecke zwischen Waterloo im Zentrum Londons und dem südwestenglischen Exeter kennt, wird sie nach Studium des Fahrplans auf keinen Fall per Eisenbahn zurücklegen. Wenn die Angaben stimmen, kommt es nämlich auf halber Strecke unweigerlich zu einem Zusammenstoß. Das ist freilich nicht die einzige Ungereimtheit, das Werk strotzt nur so vor Fehlern. Beim Londoner Bahnhof Paddington etwa sind alle Abfahrts- und Ankunftszeiten falsch. Kaum war der Fahrplan erschienen, da mußte man deshalb einen Korrekturband von 57 Seiten hinterherschicken. Damit nicht genug: Weil auch der Ergänzungsfahrplan Schnitzer enthielt und den Autoren im Originalbuch zahllose Fehler entgangen waren, mußte ein dritter Band her – diesmal 246 Seiten dick. Und das, bevor die neuen Pläne überhaupt in Kraft getreten sind.

Der Fahrplan und seine Ableger sind Bestseller. 33.000 Stück sind für den internen Gebrauch bestimmt, 4.500 Exemplare gingen an die Fahrkartenschalter, und 44.000 Wälzer sind für umgerechnet 20 Mark an wissensdurstige Passagiere verkauft worden. Die brauchen inzwischen eine Schubkarre, wenn sie mit Fahrplan auf Reisen gehen wollen. Um festzustellen, wann ein bestimmter Zug abfährt, muß man in allen drei Bänden nachsehen – es könnte ja sein, daß irgendwo ein Fehler lauert. Aber selbst wenn alles gewissenhaft durchgecheckt ist, kann einem immer noch der Zug vor der Nase wegfahren – denn auch der zweite Korrekturband ist keineswegs korrekt. So gibt es Züge, die zwar irgendwo losfahren, aber ihren Zielbahnhof laut Fahrplan nie erreichen. Waren sie eben noch verzeichnet, so tauchen sie auf der nächsten Seite plötzlich nicht mehr auf. Kein Wunder, daß die Eisenbahngesellschaft Verluste einfährt, wenn ihr ständig die Züge abhanden kommen.

Was tun? Noch einen Korrekturband herausgeben? „Einstampfen und von vorne beginnen“, rät die Interessengemeinschaft der Passagiere. „Drei Ergänzungsbände wären doch völlig bekloppt.“ Und ein Experte für Fahrpläne meint: „Ich analysiere und sammle seit den fünfziger Jahren Fahrpläne, aber das sind die schlimmsten Fehler, die ich je gesehen habe.“ „Railtrack“ hat von den 25 Einzelunternehmen, in die „British Rail“ aufgesplittet worden ist, insgesamt eine Viertelmillion Mark für die Erstellung der landesweiten Fahrpläne kassiert. Das Geld hätten sie sich sparen können. Nach der Privatisierung werden die unrentablen Strecken ohnehin stillgelegt – und „Railtrack“ kann ein handliches Taschenbuch herausgeben.