Mehr als nur Nachfolgerin der FDP

Bündnis 90/Die Grünen, der Name steht für eine Programmatik, die sich gleichermaßen von inhumanen Sozialismuskonzepten absetzt, wie sie beim Kampf gegen einen lebensfeindlichen Kapitalismus das Eigentumsrecht hinterfragt  ■ Von Wolfgang Ullmann

Die weitverzweigte Debatte über Bündnis 90/Die Grünen als dritte politische Kraft im Parteienspektrum wurde dominiert von der Interpretation dieser neuen Kraft als Nachfolgerin der Liberalen. Gar keine Rolle spielte die Frage nach Inhalt und Sinn des neuen Parteinamens Bündnis 90/Die Grünen. Aber gerade er ist es, der markanter als alle Vergleiche und Zuordnungen das wesentlich Neue signalisiert.

Bündnis 90/Die Grünen – das ist weder eine Nachfolgepartei der marginalisierten FDP noch die Partei des dritten Weges zwischen den traditionellen linken und rechten Alternativen. Vielmehr handelt es sich bei Bündnis 90/ Die Grünen um die Initiative zu einem politischen Neuanfang jenseits der mit dem Kalten Krieg zusammengebrochenen Systemkonfrontation.

Grundpositionen

Genau hierfür steht der Name Bündnis 90/Die Grünen: die systemübergreifende Verschmelzung westlicher und östlicher Bürger- und Bürgerinneninitiativen zur gemeinsamen Artikulation einer in der gleichzeitigen Auseinandersetzung mit den lebensfeindlichen Tendenzen des globalen Kapitalismus wie der antihumanen Diktatur des Marxismus-Leninismus gewonnenen Einsicht in die ökologischen, sozialen und menschenrechtlichen Bedingungen der Modernisierung der von den traditionellen Parteien getragenen nationalen Demokratien.

Wer auf die Grenzen des industriellen Wachstums hinweist, muß heute deutlicher als bisher die Frage beantworten: Was heißt Zukunft des Lebens unter den Bedingungen der Grenzen des Wachstums? Und das hat der Zusammenbruch des größeren Teils der kommunistischen Diktaturen seit 1989 ebenfalls ans Licht gebracht: Utopien und Visionen sind keine angemessene Antwort auf diese Frage. Eine gewähnte oder geträumte ist etwas völlig anderes als die reale Zukunft des von der Zerstörung bedrohten Lebens. Denn dieses Leben ist bisher gerade von denen am nachhaltigsten bedroht worden, die – sich im Besitz einer handhabbaren Utopie wähnend – das Leben ihrer versklavenden Diktatur meinten unterwerfen zu dürfen oder zu können.

Die dramatische Dringlichkeit des Schrittes von der konservativen zur kreativen Ökologie besteht gerade darin, daß die Zukunft, nicht irgendeine gewähnte, sondern die reale, gelebte Zukunft des Lebens, nur durch seine eigene Kreativität erobert werden kann.

Ein Gleiches gilt vom pazifistischen Grundimpuls der Grünen. Es muß bei der Konsequenz aus zwei Weltkriegen bleiben, daß der Krieg, nachdem er alle Grenzen des politisch und moralisch Verantwortbaren niedergerissen hat, nicht mehr als legitimes Instrument nationaler und überhaupt staatlicher Politik angesehen werden kann. Der internationale Gewaltgebrauch muß auf die beiden in der UNO-Charta vorgesehenen Fälle reduziert werden: die vorläufige Selbstverteidigung und die sie ablösende Intervention der Völkergemeinschaft gegen Friedensbrecher und Aggressoren.

Es geht jetzt um das wirklich entscheidende, um aktive Friedenspolitik, die den Krieg nicht nur ächtet, sondern unmöglich macht, indem sie Friedensordnungen realisiert und durchsetzt. Daß eine solche Friedensordnung mit einer Sanktionsgewalt gegen die, die sie sabotieren und zu zerstören suchen, ausgestattet sein muß, ist selbstverständlich.

Für eine Zivilgesellschaft

Ich glaube, daß der Niedergang der traditionellen Parteien und ihre Unfähigkeit, der politischen Meinungsbildung positive Anstöße zu geben, einen Tiefpunkt erreicht hat, der nur schwer noch unterboten werden kann. Der Niedergang betrifft das Parteiensystem als solches, seine Struktur und die ihm zugrundeliegende politische Philosophie. An zwei Begriffen soll das demonstriert werden, dem der Volkspartei und dem der Zivilgesellschaft.

Volkspartei, das ist ein Widerspruch in sich selbst. Denn eine Partei ist schon ihrem Namen nach nicht das Ganze, sondern ein Teil der Bevölkerung, nämlich der, der sich zwecks Verfolgung eines bestimmten politischen Zieles zusammengetan hat, neben anderen, die das Gleiche um anderer oder entgegengesetzter Ziele willen getan haben. Aber Volkspartei, dieses Wort impliziert, daß alle ihre Mitglieder sein oder wenigstens von ihr repräsentiert werden könnten.

Volkspartei, das ist der demokratisch höchst fragwürdige Versuch, unter Verzicht auf die politische Auseinandersetzung andere Positionen zu delegitimieren oder wenigstens zu marginalisieren. Die Marginalisierten versuchen dann dadurch der Klemme zu entkommen, daß sie sich um den besseren Rand streiten, der für die einen rechts, für die anderen links liegt. Aber wie sinnvoll ist dieser Streit, da Rechte – wie unlängst im Freitag – erklären, sie wählten PDS, weil sie gegen den Kapitalismus seien, ein „links“ sein wollendes Blatt wie die Junge Welt aus seinen Sympathien für die ethnischen Säuberer Karadžić und Mladić keinen Hehl macht?

Es wäre nun wirklich seltsam, wenn diesem weitgehend inhaltlosen Mitte-rechts-links-Spiel eine Gesellschaft entspräche, die den Namen Zivilgesellschaft, Bürger- und Bürgerinnengesellschaft verdiente, weil sie, als Öffentlichkeit, der Raum des demokratischen Diskurses ist. Alle, denen Demokratie am Herzen liegt, wünschten sich das. Aber den in Personal- und Klienteldebatten verhedderten Parteien entspricht eben nicht eine Bürger- und Bürgerinnengesellschaft, sondern eine weithin entpolitisierte Klienten-, Mandanten- und Konsumentengesellschaft, die mittlerweile mehr eine Dimension der Politikverdrossenheit als eine des politischen Diskurses geworden ist.

Wider eine neue Totalität

Was wollen Bündnis 90/Die Grünen tun, um die Zivilgesellschaft der Bürgerinnen und Bürger wiederzubeleben? Es muß zuallererst öffentlich klargestellt werden, vor welcher Alternative diese Gesellschaft jetzt schon steht, ob sie es will oder nicht.

Der Zerfall der nationalen Basis der Demokratie endete 1945 mit der grundsätzlichen Unterwerfung nationaler Politiken unter die Supermachtstrukturen, die die Anti-Hitler-Koalition dem Europa der Nationen auferlegte. Ökonomische, technische, finanzielle und nicht zuletzt ökologische Entwicklungen haben inzwischen das Ihre dazu beigetragen, den Zerfall der nationalen Basis von Demokratie zu fördern. Es ist das dumpfe Gefühl für das Unaufhaltsame dieses Zerfallsprozesses, das die Gesellschaft mit einem allgegenwärtigen Angstgefühl imprägniert, das, partiell schon zur Panik gesteigert, zu völlig irrationalen Haßausbrüchen und einem mittlerweile allgegenwärtigen Terrorismus geführt hat.

Es ist dieses überall wahrnehmbare Szenario, das eine Stimmung begünstigt, nach der die scheinbar trügerischen Freiheiten der Demokratie abzulösen seien mittels einer neuen, alle Partikularitäten und sinnlosen Pluralitäten niederwerfenden und niederhaltenden Machttotalität. Als Basis einer solchen Machttotalität sollen – wie in den Fundamentalismen aller Spielarten – religiöse oder – wie im postkommunistischen Südosteuropa – ethnische oder – wie in den Neonazigruppierungen – rassische Kollektive dienen.

Die Bürger- und Bürgerinnenbewegungen und ihre Parteiwerdung in den verschiedenen Gruppierungen der Grünen in allen europäischen Ländern stehen als andere Seite der Alternative dafür, daß auch jenseits der nationalen Basis Demokratie möglich und der einzige Weg ist, das demokratische Erbe in Kultur und Recht nicht in der Barbarei neuer Fundamentalismen und Totalismen zugrunde zu richten.

Eigentumsrechte ändern

Alle Welt weiß, daß Sozialpolitik ein neues Fundament braucht, seit klar wurde, daß der Überfluß der Marktwirtschaft wegen seiner Konjunktur- und Unternehmerabhängigkeit dieses Fundament nicht ist. Die Alternative zwischen Neokollektivismus und Demokratie spitzt sich auf den einzelnen Bürger und die einzelne Bürgerin zu: Sollen deren Recht und Freiheit Markt- und Standortinteressen geopfert oder beides auch sozialrechtlich gewährleistet und einklagbar gesichert werden? Das letztere bedeutet eine menschen- und grundrechtliche Fundierung der Sozialpolitik, die erhebliche verfassungs-, wirtschafts- und finanzpolitische Auswirkungen haben muß.

In diesem Zusammenhang muß das Eigentumsrecht zur Debatte gestellt werden. Man kann es nicht mehr bezweifeln, daß die Konzentration des Eigentums regional, national und global einen Grad erreicht hat, der Wirtschaft und Markt mit ihrer Selbstzerstörung bedroht. Das Treuhandkonzept des Zentralen Runden Tisches war der erste, leider zaghafte Versuch, hier eine Wende dadurch herbeizuführen, daß Eigentum vor seiner Privatisierung personalisiert und individualisiert wird. Die Erfolglosigkeit dieses Versuches ändert nichts an seiner grundsätzlichen Bedeutung. Man wird nach zwei Seiten über ihn weiter nachdenken müssen.

Angesichts der Bedrohtheit und des Knappwerdens der universalen Lebensgrundlagen Boden, Wasser und Luft erhebt sich die Frage, ob und wie deren Vermarktung und Privatisierung nicht schnellstmöglich rechtlich begrenzt oder ganz ausgeschlossen werden muß. Die andere Seite dieser Sache ist, daß ein solcher Schritt eine Wandlung im Eigentumsrecht nach sich zöge. Es verließe die römische Tradition des Ineinssetzens von Eigentum und freier Verfügbarkeit und würde Eigentum als Freiheit zur Teilhabe definieren. Wo es um die Zukunft des Lebens geht, geht es immer auch um Frauenrechte. Es ist nicht nur ein Skandal der Demokratie, sondern ebensosehr eine Quelle der Friedlosigkeit der Gesellschaft, daß just der Teil von ihr, der mit dieser Zukunft physisch und existentiell am engsten verbunden ist, noch immer kein uneingeschränktes Mitspracherecht über eben diese Zukunft hat – wie auch immer die Beschränkung dieser Freiheit in verschiedenen Kulturen und Traditionen aussehen mögen. Für die Rechtsgeschichte unseres Landes jedenfalls muß es als ein besonderes Schandmal angesehen werden, wenn per Gesetz ein Teil der Gesellschaft zur Indoktrination durch einen anderen freigegeben wird, so als ob Frauen nicht selbst darüber entscheiden könnten, ob, wie und wie oft sie schwanger werden wollen und als ob sie von sich aus nicht in der Lage wären, sich dort Rat zu holen, wo sie es wollen.

Und ein dritter Punkt verdient angesichts überall akuter Fundamentalismen unterstrichen zu werden. Bündnis 90/Die Grünen sollten die Selbständigkeit ihrer Position gegenüber anderen Parteien dadurch wahren, daß sie ihr Verhältnis zum Christentum überhaupt und nicht nur zur Kirche öffentlich klarstellen. Sie sollten kenntlich machen, daß sie genausoweit entfernt sind vom Fundamentalismus der Konservativen, der Religion statt Ethik zum Fundament der Politik machen will, wie von einem Laizismus, der die Religion zu einer Privatsache erklärt, die sie ganz offenkundig nicht ist. Bündnis 90/Die Grünen sollten vielmehr dafür stehen, daß Glaubens- und Gewissensfreiheit des einzelnen in einer Demokratie dergestalt öffentlich wirksam werden können, daß sie durch keinerlei Privilegien für einzelne Religionen beziehungsweise Kirchen eingeschränkt werden dürfen.

Meine Positionen bedürfen gewiß noch an vielen Stellen der Explikation, der Konkretisierung und wo nötig auch der Korrektur. In einer Hinsicht bin ich mir meiner Sache aber ganz sicher. Diejenigen irren sich gewaltig, die in Bündnis 90/Die Grünen nichts anderes als die Nachfolgepartei einer gescheiterten FDP sehen wollen.