Nur einer macht noch das Licht an

Erst die Kläranlage, dann die Zwangsverwaltung, und jetzt wird das Rathaus verkauft: Das brandenburgische Götz hat jede Menge Schulden und wenig Grund, den Tag der deutschen Einheit zu feiern  ■ Von Thorsten Schmitz

In diesem kurzen Moment, wenn es noch nicht dunkel ist, längst aber auch nicht mehr hell, läßt Christian alles stehen und liegen. Zieht sich die Steppjacke und die Boots an und guckt, ob die Taschenlampe noch leuchtet. Da kann „Enterprise“ laufen oder ein Fußballspiel, alles egal. Christian muß in den Garten. Zu seinem „Geheimnis“.

Hinter dem Rhododendronbusch liegt ein Sicherungskasten versteckt, von dessen Existenz der Landrat nichts weiß. Christian's Mutter hat den kostbaren Kasten entdeckt. Heiß war's, und sie düngte gerade die Erde im Vorgarten, als sie mit dem Fuß gegen den Kasten stieß. Christian, der Tüftler mit der Eins in Physik, bewirkt seitdem jeden Abend ein kleines Wunder.

Er dreht eine bestimmte Sicherung wieder in ihre Fassung – und die zehn mittelalterlichen Straßenlampen leuchten den Nachbarn den Weg. Und nur ihnen, denn anderswo im tausendköpfigen Kaff tappen Fußgänger im Dunkeln: Geisterstadt Götz. Die Administration des Dorfes hielt es im Frühjahr für angebracht, bis auf weiteres alle Straßenlaternen auszuknipsen. So sucht man, ernsthaft, den Schuldenberg der verschuldetsten Kleinstadt Deutschlands abzutragen. Eine völlig überdimensionierte Kläranlage hat Götz den Todesstoß versetzt (siehe Kasten).

Die Sicherung wieder einsetzen – das ist nicht nur ein Akt von Elektrifizierung, das ist auch ein kleiner Triumph der Götzer über den Westen. Ihr Pleite-Dorf stand vier Monate unter Zwangsverwaltung – und natürlich war es ein Wessi, der in dieser Zeit das Kaff-Management übernommen hatte. Christian über seine Lichtspenderei: „Dem zeigen wir's.“

Überhaupt haben die früheren kapitalistischen Feinde den Charakter des Dorfes nachhaltig geprägt. Direkt hinter den Gleisen hat ein bayerischer Wohnhausgrossist eine schmucke Siedlung hingespuckt, in Rekordzeit. Dreißig Legohäuschen mit Vollkomfort, Tiefgarage, Vorgärten, Innenhof und Spielplatzgerät. Leider hat auch hier die bis heute nicht vollendete Kläranlage den Häuslebauern einen Strich durch die Rechnung gemacht: Ein Provisorium entsorgt nun die menschlichen Ausscheidungen. Gerne würden die bayerischen Investoren noch mehr Häuser hochziehen, sie dürfen aber nicht – erst wenn das Klärwerk steht. „Uns kann das egal sein“, sagt Christians Mutter, „die meisten Wohnungen sind Eigentumswohnungen, und wer kann sich das schon leisten?“ Sie guckt verschwörerisch in Richtung Gleise. Und sagt: „Wessis eben.“

Der 3. Oktober, Tag der deutschen Einheit – in Götz könnte er zum Volkstrauertag umfunktioniert werden. Die Zwangsverwaltung setzte das Dorf auf Sparflamme, und auch der frischgebackene neue Bürgermeister Lemke, Detlef Lemke, darf nicht einen Pfennig ausgeben für Blumenrabatten, Theater, Sport, Schule, Hort, Kita – wovon sollte er das auch bezahlen? Er kann froh sein, daß der Lohn der Gemeindeangestellten jeden Monat, gerade so, überwiesen wird.

Sogar die Freiwillige Feuerwehr mußte dran glauben. Das tut besonders weh, denn sie ist der gesellschaftliche Mittelpunkt von Götz – wie in jedem anderen Dorf eben auch. In Spenderlaune hatte Ex- Bürgermeister Berkholz den Löschern drei neue Einsatzfahrzeuge in die Garage gestellt – der Westberliner Zwangsverwalter Fricke nahm ihnen zwei wieder weg. Hans-Jürgen Landeck, der hauptberuflich Bier zapft in der „Tränke“ und nebenberuflich Leben rettet, ist erbost, wie er nie erbost war: „Wenn es brennt, fahren unsere Männer mit Fahrrädern dem Einsatzfahrzeug hinterher.“ Dem alten Bürgermeister, der es in Götz nicht lange ausgehalten hat, geben die Götzer nur eine Teilschuld, wenn überhaupt. „Da haben noch ganz andere geschlafen“, sagt Landeck.

Ein arbeitsloser Mittdreißiger nippt an seinem Korn – und beteiligt sich am kollektiven Schimpfen. „Der Berkholz“, lautet seine Analyse, „hat sich von den Buletten übers Ohr hauen lassen.“ Buletten sind für die Götzer Berliner, der In- und Oberbegriff für alle Fremden. „Der war einfach überfordert.“ Allerdings nicht damit, sich den eigenen Lohn aus knapper Kasse zu sichern. Berkholz gönnte sich 8.000 Mark Monatslohn und eine 18.000 Mark teure Dienstreise in die Schweiz.

Auf der Suche nach dem Niedergang, wie ihn sogar die Lokalzeitung ständig heraufbeschwört, muß man in Götz nicht weit laufen. Es gibt zwar Baustellen, aber keine Bauarbeiter. Die Kanalisationsrohre für die gigantische Kläranlage, Durchmesser 1,44 Meter, gammeln auf freiem Feld vor sich hin. Die Uhren auf dem Bahnhof stehen seit Wochen still, und Fahrkarten müssen Götzer seit dem 1. August im Zug kaufen – der Fahrkartenschalter wurde geschlossen. Die Jugendlichen gurken ziellos mit ihren Rädern von Ortsausgang zu Ortsausgang – die einzige Disko wurde geschlossen, das Jugendzentrum abgerissen. Anja und Beate, zwei zwölfjährige Götzer Gören, vertreiben sich ihre freie Zeit im einzigen Supermarkt. Essen Chips und lassen sich von der Verkäuferin die Tastatur der Registrierkasse erklären: „Was Besseres fällt uns nicht ein“, sagt Anja – und darf einen Kunden abkassieren.

Das alles soll nun anders werden – mit dem in Götz geborenen Detlef Lemke. Große Erwartungen werden in ihn gesetzt, man ist es einfach leid, „über den Tisch gezogen zu werden“. Die das sagt, hat wenig Rente – und einen großen Groll gegen die „Zwangsverwaltung aus dem Westen“. Ihren Namen will sie nicht nennen, die alte Dame, dafür gerne kundtun, „was wir alle glauben: Der Detlef, der kriegt das hin“. Die Frau versucht, Blumen und Kürbisse aus ihrem Garten zu verkaufen. Sie sitzt in einem Campingstuhl an der höllisch lauten Hauptstraße und ist kaum zu verstehen: „Man muß ja nicht gleich den Kopf in den Sand stecken“, schreit sie gegen die Motoren an, „nur weil man aus Götz kommt.“ „Der Detlef“, das ist ihr Wunsch, möge bitte auch die Rennstrecke modifizieren. „Früher war es hier ruhig.“ Heute leide „ganz Götz“ daran, daß sich vermögende Westberliner einen Zweitwohnsitz auf dem Land leisten können.

Die Hauptstraße ist das letzte, an was Detlef Lemke im Moment denkt. Wenn er abends nach Hause kommt von der Arbeit, schlägt er sich rum mit hohem Finanz-Vokabular. Kubikmeterpreise, Investitionsvolumen, Rendite und Verzugszinsen – das alles sprudelt nur so aus ihm raus, wenn er Götzens Gram skizziert: „Mal sehen, ob die Zwangsverwaltung überhaupt etwas gebracht hat.“ Die meisten Götzer hätten es ohnehin lieber gesehen, „wenn wir unsere Geschicke in die eigene Hand genommen hätten“.

Mehrere Nächte hat Lemke mit seiner Familie diskutiert, ob er die Geschäftsführung von Götz übernehmen solle. Der Job als Bürgermeister bringt ihm keine 8.000 Mark monatlich – Folge der Zwangsverwaltung –, höchstens Streß, nie Freizeit – und „so schnell keinen Urlaub“. Doch die Familien, wie überhaupt ganz Götz, ist zuversichtlich, daß „der Detlef“ es schafft. So abwegig ist die Hoffnung nicht: Detlef Lemke arbeitet in Potsdam als Bankangestellter.