Jubiläum der Gewaltfreien

Langer Atem bei den Libertären: Die Zeitschrift „Graswurzelrevolution“ erscheint seit 1972 und jetzt in der zweihundertsten Ausgabe  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

„Was ist Befreiung?“, „Boykottiert die Bundeswehr!“ oder auch „Partner der Ausbeutung“ – so lauten die Schlagzeilen der Monatszeitung, die da im ersten Stock der „Kurve“ produziert wird. Die „Kurve“ ist ein Fachwerkhaus im wendländischen Wustrow, eine „Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion“, die so heißt, weil sie genau im Knick, eben in der Kurve, der Hauptstraße von Wustrow liegt.

Die Monatszeitung „für eine gewaltfreie, herrschaftlose Gesellschaft“ wird dort seit Jahren in einem einzigen Raum hergestellt: ein PC, eine Menge Papierstapel und natürlich alle Ausgaben von Anfang an. Die „Graswurzelrevolution“ hat einen langen Atem bewiesen. Seit 1972 erscheint sie. In diesen Wochen kann sie Jubiläum feiern, die Leser können die 200. Ausgabe erwerben.

Jochen Stay, der für das regelmäßige Erscheinen der 20 oder auch mal 30 Zeitungsseiten in taz- Format sorgt, ist keineswegs ein Chefredakteur oder Verlagsleiter. Dem 30jährigen mit den dunklen Locken obliegt vor allem das Zeitungsmachen, Satz, Layout, auch der Vertrieb. „Der Name Graswurzelrevolution steht für eine Umwälzung der Gesellschaft von unten her“, meint Stay. Und weil sich Macht von unten mit einer Zentrale, die die Richtung vorgibt, nicht verträgt, ist auch die Redaktion dezentral organisiert. Fünfzehn Frauen und Männer im Alter zwischen Mitte 20 und 60 arbeiten gegenwärtig im Herausgeberkreis mit und kommen regelmäßig aus allen Teilen der Bundesrepublik zusammen. Selbstverständlich sind sie ehrenamtlich tätig.

Wer in der Graswurzelrevolution publiziert, kann sich nicht einmal einen Namen machen: „Die Artikel erscheinen unter Pseudonymen“, erklärt Jochen Stay, „und darauf legen wir großen Wert.“ Wenn ein Pseudonym oft wiederkehrt, wird es gewechselt. Nicht die Personen, sondern die Inhalte sollen im Vordergrund stehen. Prominenz, und sei nur die in der Szene der Gewaltfreien oder Anarchisten, steht eben im Widerspruch zur Abschaffung jedweder Herrschaft.

Die Auflage blieb über die Jahre halbswegs konstant

Die Graswurzelrevolution will eine Bewegungszeitung sein, natürlich eine der dezentralen Basisbewegungen an den „Wurzeln“ der Gesellschaft. Im guten alten Handverkauf wird sie deshalb nicht nur auf politischen Veranstaltungen angeboten, sondern vor allem dort, wo die sozialen Bewegungen zur Aktion schreiten: beim Castor-Transport im Wendland genauso wie bei einer antirassistischen Fahrradtour entlang der deutsch-polnischen Grenze.

Vom Auf und Ab der Bewegungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten sind die Verkaufszahlen erstaunlich unberührt geblieben: „Wir haben nie mehr als 5.000 und nie weniger als 3.000 Zeitungen verkauft“, kann Jochen Stay berichten. 5.000 waren es auf dem Höhepunkt der Proteste gegen die Nachrüstung. Damals in den achtziger Jahren wurde in der Friedensbewegung genauso wie in der Anti-Akw-Bewegung noch heftig über den Sinn gewaltfreier Sitzblockaden gestritten. Daß heute etwa bei den wendländischen Atomkraftgegnern die gewaltfreie Blockade der Castor-Transporte selbstverständliche Protestform ist, wertet Stay als Erfolg der Ideen der Graswurzelrevolution.

Gegründet wurde die Graswurzelrevolution 1972 als ein Blatt der „Förderation gewaltfreier Aktionsgruppen“, aber schon seit 1987 ist sie von „der Föga“ unabhängig. Auf den Bundestreffen, die das Blatt zweimal im Jahr veranstaltet, sind Totalverweigerer genauso präsent wie die Gewaltfreien aus der Anti-Akw-Bewegung oder jene, die sich dem Anarchismus verbunden fühlen.

Die Jubiläumsnummer widmet unter der Rubrik „Theorie“ eine ganze eng bedruckte Seite „Leo Tolstois gewaltfreien Anarchismus“. Unter den Titel „Klassische Schriften des gewaltfreien Anarchismus“ wird da in einer anderen Ausgabe Albert Camus' „Der Mensch in der Revolte“ breit vorgestellt. Das Schwergewicht aber legt die Graswurzelrevolution noch immer auf Hintergrundanalysen und Kommentaren zu aktuellen politischen Ereignissen.

Der Aufmacher der Jubiläumsnummer, „Boykottiert die Bundeswehr!“, gilt dem Einsatz bundesdeutscher Kampfflugzeuge in Bosnien. Auf insgesamt sechs Seiten kritisieren die Gewaltfreien die Aufrüstung Kroatiens durch die Bundesrepublik, den Schulterschluß zwischen Joschka Fischer und Heiner Geissler in der Bosnienpolitik, berichten über Kriegsdienstverweigerung und Zwangsrekrutierung in Serbien. Platz in der Zeitung haben auch immer die gewaltfreien Aktionsgruppen selbst.

Kritik am Staat darf bei Anarchisten nicht fehlen

In einer Zeitung, die seit über 20 Jahren „über Theorie und Praxis des gewaltfreien Anarchismus“ berichtet, darf natürlich in einer Jubiläumsnummer auch eine Seite „Kritik am Staat“ nicht fehlen. „Die Regierung des Menschen über den Menschen ist die Sklaverei“, wird darin der alte Proudhon zitiert. Und nach drei Jahren in der Kurve in Wustrow wird sie nun bald nach Oldenburg umziehen. Honorare hat die Bewegungszeitung ihren Autoren nie gezahlt. Wie der Anarchismus hat sie die Chance, in Ehren alt zu werden.