Marlboro, Dosenbier und Expressionismus

Keiner mag sie, aber trotzdem gehen alle hin: Selig sind mit einer neuen Platte auf Deutschlandtour  ■ Von Gunnar Lützow

Neulich abend bei Studentenfreunden: Gelangweiltes Zappen durch die achtunddreißig Kanäle. Doch da, was ist das!? „Langeweile besäuft sich, meilenweit ...“ – ein als Pilot verkleideter Grunger dreht mit einer museumsreifen Kiste einige Runden, singt „es ist so oooohne dich, und wenn du einsam bist, denkst du vielleicht auch mal an mich?“, dann: „Es kommt so anders als man denkt, Herz vergeben, Herz verschenkt“ ... wildes Gebrüll und hysterisches Kreischen diesseits der Mattscheibe, dann final rettender Griff zur Fernbedienung.

Selig mag keiner, den unsereiner kennt, nicht einmal der alternative Plattenhändler, der von den 100.000 verkauften Einheiten des Debutalbums doch auch was gehabt haben muß. In Hamburg, wo man noch immer mit Star-Club- Zeiten hausieren geht, zeigt man sich ähnlich wenig begeistert über den Erfolg der fünf Jungs aus St. Pauli, Barmbek und Eimsbüttel. „Was wir schon alles an den Kopf gekriegt haben“, erzählt Selig-Sänger Jan Plewka, „vor allem in unserem Heimathafen. Ich muß das nicht lesen, echt nicht.“

Die Presse mag Selig nämlich auch nicht – Selig aber auch nicht die Presse: „Du redest, sagst irgendwas und meinst es ernst oder ehrlich, und dann wird es so umgedreht, daß es wie ein Speer in deine Brust sticht.“ Detlef Kinsler von der Frankfurter Rundschau entdeckte die „gesunde Naivität“ dieser „modernen Gauklertruppe“ und die „wildesten und persönlichsten Songtexte seit den legendären Ton, Steine, Scherben“; und Benjamin von Stuckrad-Barre schrieb im Rolling Stone: „Seligs größter Vorteil ist, daß sie keine Studenten sind.“ Kein Wunder, daß den fünf Neo-Hippies, von denen immerhin drei Abitur haben, ein Artikel aus einer Schülerzeitung am besten gefiel. Der sei nämlich weder kopflastig noch vorzensiert gewesen.

Doch obwohl die Hunde bellten, zog die Karawane los. Zehntausende kamen zu den 150 Konzerten ihrer ersten Tournee, die – ausgerechnet – in Dithmarschen begann. „Das war wie in der Prärie, wie im schlechten Western. Die Dorfsherrifs haben uns gejagt. Wir haben auf den Marktplätzen von Kiel bis Eckernförde rumgejamt, bis die Bullen kamen.“ Und statt direkt ins Gefängnis ging es für Selig erstmal über Los. Ihr aktuelles Epos „hier“ schielt nach den gigantischen Dimensionen von Pearl Jam und Soundgarden, und mit Touren hat die Band sich auch im Ausland bekannt gemacht. „In Kopenhagen sind die Leute fast ausgeklinkt, in Frankreich mußten wir Autogramme geben, unfaßbar. Die Leute, die wir in Holland kennengelernt haben, sagten: Bleibt nicht in Deutschland.“

Anders als die Protagonisten der Hamburger Independent- Szene haben Selig ein ungebrochenes Verhältnis zum kommerziellen Erfolg. Sie wollten schon immer Rockstars werden – und es auch bleiben: „Wir sind schließlich keine Jurastudenten.“ Wo sich andere Bands nicht immer krampffrei bemühen, die abgegriffenen Standards populärer Musik zu dekonstruieren und Identifikationsangebote zu verweigern, indem sie sperrige Textebenen und mitziehenden Groove gegeneinandersetzen, wo somit die Songs beständig die ungemütliche Schwebe zwischen Tanzflur und Bücherregal halten, singen Selig „Ich“ und meinen „Du“. Angst, aus Versehen kitschig zu werden, haben sie keine. Auf „hier“ muß ein ganzes Streichquartett herhalten, um den „halben Freund“ zu besingen.

Die Verschlüsselung nur Eingeweihten zugänglicher Subtexte ist ihr Ding nicht: „Für mich wäre es unehrlich, wenn ich mir irgendwelche Weisheiten ausdenken würde. Oder irgendwelche verzwackten Gedankengänge, oder irgendwas, was ich gar nicht bin.“ Und: „Wir machen einfach, was aus dem Bauch rauskommt. Es ist ja so in Deutschland, daß sich viele Leute mit den Texten identifizieren.“

Mit sich selbst identisch sein, „es fließen lassen“, einfach die Vibrations fühlen – dieses Hippierockfeeling findet in Selig ein spätes Spaltprodukt. Irgendwie sind Yin und Yang, gepaart mit dem männlich- juvenilen Willen, ganz nach oben zu kommen, auf dem Umweg über Grunge, Stadtindianertum und Langhaarromantik in den Köpfen MTV-kompatibler Großstadtprovinzler angelangt. „Mit dem Ganzen als Kreis“, möchte Plewka eines Tages im Einklang leben. Bis dahin müssen die etwas weniger komplexen Bilder herhalten. Über den von Selig besungenen kleinen und großen Dramen hängen Sterne und Mond, letzterer wahlweise „still“, „golden“ oder „treu“.

Die Ergebnisse dieses Pendelns zwischen einer Überdosis Guns 'n‘ Roses, der Illusion von Stärke durch verzerrte Gitarren, Motorräder, Stirnbänder, Kreuze (!!) und Knarren, sind oft ebenso ungelenk wie die „Ich lese nicht, ich lebe lieber“-Haltung von Selig. Schön illustriert wird sie auch in dem Video zu „Ist es wichtig?“, das auf dem Dach eines Londoner Hochhauses gefilmt wurde: Comic-Helden in einer grauen Welt, freundliche Verwirrtheit mischt sich mit Ausdruckswillen. Jan Plewkas nach Marlboro, Dosenbier und Expressionismus klingende Stimme beantwortet die von Mike Watt und Eddie Vedder unlängst aufgeworfene Frage, ob sich die Kids von heute nicht langsam gegen die Seventies verteidigen sollten, mit einem beschwörenden „Was ich anfaß, zerfließt ohnedies ... es ist mehr, als du siehst.“ Psychedelische Klänge untermalen diesen zweiten Teil des Refrains, der selbst Lucy im Diamantenhimmel gefiele.

Selig wollen der drögen Arbeitswelt einen Tag stehlen, bleiben aber meist schon in der Hoffnung stecken. „Tina sag es mir genau ... machst du übermorgen mit mir blau?“ Selbst die Beatles, die „Tina“ ein paar Akkordfolgen von „While my guitar gently weeps“ ausgeliehen haben, waren mit ihrem doppelbödigen „It's been a hard day's night“ schon kritischer.

Aber kein Mensch weiß, ob nicht genau diese Band den Zustand der hiesigen Jugend diesseits von HipHop und jenseits von Phil Collins am genauesten abbildet: ein bißchen trivial, manchmal stumpf, manchmal auch schlau – und oft besser, als das erste Vorurteil es will. Wie gesagt: Es mag sie ja keiner – außer den Massen, die auf den Konzerten gespeist werden. Wie viele hunderttausend Selig-Fans können sich irren?

Termine: 4. 10. Berlin; 5.10. Göttingen; 6. 10. Hannover; 7.10. Köln; 10. 10. Oberhausen; 12.10. Frankfurt/M.; 16.10. Halle; 17.10. Bremen; 18.10. Kiel; 21.10. Dresden; 22.10. Erlangen; 23.10. München; 24.10. Stuttgart; 30.10. Bielefeld; 31.10. Hamburg; 1.11. Münster