Die Einheit, am Rande bemerkt

■ Fünf Jahre Wiedervereinigung: Ein Abstecher in Deutschlands westlichste und südöstlichste Kneipe fördert zutage, was das Volk über sich und andere so denkt. In einem sind sich alle einig: schuld sind immer die anderen

Tüddern (taz) – Etwa Gerd. Er ist 28 und Kanalarbeiter im ursprünglichen Sinn. Wiedervereinigung? „Ach, hör mir auf damit“, mault er, „am besten wäre gewesen, man hätte die Mauer fünf Meter höher gemacht. Mindestens!“ Seine Tresennachbarn nicken. „Da könnense alle hier fragen.“ Das Nicken in der Runde wird heftiger. „Den Ossis ist doch der goldene Westen versprochen worden. Geklappt hat es nicht“, sagt Sascha, 21, derzeit „im Staatsdienst tätig“ als Rekrut bei der Bundeswehr. „Genau“, assistiert einer aus dem Hintergrund, „und jetzt sagen alle da drüben: Früher haben wir glücklicher gelebt, und jetzt geht es uns schlechter als vorher.“

Und überhaupt: „Das alles hier im Westen haben wir, oder unsere Eltern, doch in über 40 Jahren aufgebaut, all den Lebensstandard, den Wohlstand. Und jetzt kommen die da drüben einfach dazu und wollen das auch alles haben, und am liebsten sofort.“

Wir sind in Tüddern im Selfkant – und somit unter Fachleuten in Sachen Wiedervereinigung.

Der Selfkant ist Deutschlands westlichster Zipfel, aber nicht nur deshalb eine besondere Gegend. Nach dem Krieg wurde das Gebiet 40 Kilometer nordwestlich von Aachen den Niederlanden zugeschlagen. 1963 kam es nach deutsch-holländischen Verhandlungen wieder zur Bundesrepublik zurück. Rund 8.000 Menschen leben hier in 13 Gemeinden, von Hastenrath über Süsterseel bis Schalbruch. Die Selfkanter haben einen Lieblingswitz: Vor manchen Kneipen siehst du manchmal mehr Traktoren als PKWs auf dem Parkplatz.

Seit der kleinen Wiedervereinigung vor 32 Jahren ist Tüddern der westlichste Ort in Schwarzrotgoldien – es grenzt direkt an die niederländische Stadt Sittard. Mit seinen 1.800 Einwohnern, ist es „als ,Selfkant 1‘ ganz klar das mit Abstand größte Dorf von allen hier überhaupt“, posaunt der Tüdderner Gerd.

Und die Gaststätte „Zur Post“ ist die westlichste Biervernichtungsanstalt Deutschlands. Am Stammtisch spielen vier einheimische Doppelzentner Doppelkopf, der Tresen ist rundherum belagert. Das Pils fließt in Strömen an diesem Abend, schließlich ist Feiertag morgen, wegen des nationalen Einheitsgedenkens.

Gastwirt Pero ist bei diesem Thema wenig involviert („Weiß nix“), und Gerd erklärt gleich warum: „Der is Serbe oder Kroate, wahrscheinlich Kroate, is aber auch egal, jedenfalls sagen wir immer Tschetnik zu dem. Und der kennt sich eben mit Deutschland nicht so aus.“ Dieser kleine Exkurs ins Auswärtige führt direkt zu den deutschen Verschiedenartigkeiten zurück. „Hier im Selfkant wollte ja die Mehrheit wieder zurück nach Deutschland. Wir sind schließlich keine Holländer. Und so war das auch kein Problem. Nur die Leute im Osten sind doch ganz anders geworden nach 40 Jahren“, vergleicht einer.

Beim Thema Holland ist Gerd in seinem Element. „Früher sind wir mit der Clique immer rübergefahren nach Sittard in die Kneipen, um Holländer zu verdreschen. Die sind so bescheuert, ganz anders irgendwie. Wenn ich das Geld, das ich schon wegen Körperverletzung bezahlen mußte, noch hätte, dann ginge es mir finanziell heute richtig gut.“

Keiner hier, sagt Gabi, gelernte Friseurin, 26, jetzt „im Stanzen- und Formbau tätig“, würde zum Biertrinken in die Nachbarstadt fahren, obwohl da deutlich mehr los ist als im abgelegenen Kaff Tüddern. Warum? „Das ist eben eine andere Welt.“

Mit den neuen Ländern sieht Gerd das so: „Ich habe ja nichts gegen das ostdeutsche Volk als solches. Nur tun die heute immer nur jammern, jammern, jammern. Irgendwie verkraften die das nicht.“ Kontakt mit einem leibhaftigen Ossi haben hier nur wenige gehabt, „die reisen ja in die ganze Welt, aber hier nach dem Selfkant wohl nicht so“, sagt Joachim, 41, vom Nachbartisch. Immerhin, sagt seine Trinkpartnerin Andrea, sei bei Nachbarn doch schon mal Verwandtschaft von drüben zu Besuch gewesen. „Andererseits wüßte ich auch nicht, woran ich die Ossis auf der Straße erkennen sollte.“

Gerd hat immerhin selbst drei Tanten im Osten. „Eine hat bei der Stasi gearbeitet oder jedenfalls bei einem von den vielen Honecker- Clans. Die ist auch nur am schimpfen.“ Gabi: „Ach, eigentlich können die doch nichts dafür im Osten, daß das alles so war.“ Gerd: „Oh, doch, die hätten ja nur eine andere Partei wählen können.“ Gabi: „Als wenn das so leicht gewesen wäre.“ Gerd: „Ein Volk kann man nicht kippen, aber eine Regierung immer. So sehe ich das.“

Ob sie alle denn wirklich etwas merken würden von der Wiedervereinigung – hier, so tief im Westen? „Na ja“, rechnet Sascha, „der 17. Juni ist jetzt am 3. Oktober. Aber dadurch ist kein Feiertag dazugekommen.“ – „Aber mal im Ernst gesagt“, sagt Gerd, „wir Arbeiter haben das doch alles auszubaden mit der Wiedervereinigung: Die Steuern, der Solidaritätszuschlag, all das Zeug. Mit dem Schlechtwettergeld wird's immer weniger, die Mehrwertsteuer ist erhöht worden, und die Rentenbeiträge steigen und steigen.“

„Rente?“ echot es von gegenüber, „wahrscheinlich wird die bald ganz abgeschafft. Die Kassen sind doch leer.“ – „Wahrscheinlich“, sagt Gerd, „müssen wir bald arbeiten, bis wir 90 sind. Und das alles wegen dem Osten.“

„Den Kohl müßte man absetzen wegen all der vielen falschen Versprechen“, schimpft Gabi – und das im ländlich-katholischen Selfkant, wo 70 Prozent CDU-Stimmen schon als mageres Ergebnis gelten. Und noch eines komme hinzu: „Seit die Mauer weg ist, gibt es immer mehr Neonazis. Das ist so extrem geworden. Und die kommen alle von drüben“, so habe sie es im Fernsehen gesehen. „Und im Urlaub in Spanien“, hat ihr eine Freundin erzählt, heiße es schon: „Du aus Deutschland? Neonazi, ja?!“

Es sind die ganz normalen Sprüche, offenbar ist der wiedervereinigte Selfkant längst ganz normales Deutschland. Und Gabi analysiert zusammenfassend: „Wir im Westen jammern, und die im Osten jammern. So ist das.“ Bernd Müllender