■ 5. Jahrestag der deutschen Einheit: Befürchtungen, aber mehr noch Hoffnungen eines Warschauer Publizisten
: Polen und Deutsche – näher am Herz des Nachbarn

Der Fall der Berliner Mauer erweckte in Warschau keine geringeren Hoffnungen als in Berlin oder Dresden. In Polen gab es paradoxerweise weniger Zweifel als in Deutschland, daß der ganze, mit der Volksbewegung in der DDR in Gang gekommene Prozess mit einer raschen Vereinigung der beiden deutschen Staaten enden würde. Von Anfang an wurde die deutsche Einheit als eine Chance für die Öffnung Polens Richtung Europa betrachtet; ein Europa, von dem die Polen aufgrund des Jalta-Abkommens und seiner Folgen jahrzehntelang künstlich getrennt worden waren. Die Angst vor einem erstarkten, geeinten Deutschland trat zurück gegenüber den Hoffnungen, die sich an den Prozess der Vereinigung knüpften.

Zu dieser Einstellung hatte die demokratische Opposition der siebziger und achtziger Jahre weitgehend beigetragen. Sie hatte unablässig gegen die antideutsche Propaganda der Kommunisten gekämpft, die sich ihrerseits auf überkommene Stereotypa (z.B. vom unwandelbaren Charakter der germanischen Ostexpansion) stützte. Lebendig war auch der Gedanke, daß die Westverschiebung sowohl Polens als auch Deutschlands und die Auflösung des preußischen Staates eine völlig neue geopolitische Situation in der Region hervorgebracht hatten. Als Konsequenz dieser Diskussionen entstand die Parole über die polnisch- deutsche Interessengemeinschaft, die der polnische Außenminister Skubiszewski schon Anfang des Jahres 1990 lancierte, also noch bevor sich Bonn und Berlin vereinigten. Diese Losung drückte damals und drückt bis heute die polnischen Hoffnungen am besten aus.

Die Verhandlungen im Laufe des Wiedervereinigungsprozesses zeigten einen entschiedenen Annäherungswillen, aber auch das noch vorhandene Mißtrauen und die Unkenntnis der Mentalität des jeweiligen Partners. Dies hat jedoch die polnischen und deutschen Diplomaten nicht daran gehindert, sich in fast allen strategischen Punkten rasch einig zu werden. Polen wünschte kein neutrales Deutschland, es bereitete der Vereinigung dadurch den Weg, daß es die Auflösung des Warschauer Paktes vorantrieb und für schnelle Entscheidungen plädierte. So wurden die Hoffnungen, die Polen in die deutsche Vereinigung setzte, zur praktischen Politik. Polen leistete gleich einen zweifachen Beitrag für die deutsche Einheit: Zum ersten Mal durch die Solidarność- Bewegung, die die Fundamente des sowjetischen Imperiums in den achtziger Jahren ins Wanken brachte, und zum zweiten Mal durch seine Außenpolitik in der Wendeperiode 1989–90. Bestätigen die letzten fünf Jahre die Hoffnungen der damaligen Epoche? In welchem Maße haben sie dazu beigetragen, sie zu erfüllen?

Die erste Antwort muß entschieden „ja“ lauten. Im polnisch-deutschen Verhältnis haben sich grundlegende historische Umwertungen vollzogen. Heute sind sie ein Werk nicht nur von Politikern, sondern auch von zahlreichen lokalen Aktivisten und Kulturträgern auf beiden Seiten der Grenze. Einen interessanten Beweis dafür liefert die letzte große Breslauer Ausstellung zur Geschichte von Schlesien und Brandenburg.

Jeder Fortschritt enthüllte aber auch Unmengen von Arbeit, die die polnisch-deutsche Interessengemeinschaft erfordert.

Wenn ich die polnisch-deutschen Beziehungen aus der Vogelperspektive betrachte, sehe ich zwei Felder, die besonders intensiv gepflegt werden müssen. Das eine ist die asymmetrische Entwicklung der polnischen und der deutschen Wirtschaft. Obwohl sich die polnische Wirtschaft gegenwärtig überraschend schnell (sechs Prozent Wachstumsrate) entwickelt, werden lange noch große Unterschiede im Lebensstandard existieren. Polen bleibt lange noch der ärmste direkte Nachbar von Deutschland. Andere arme Europäer – Portugal oder Griechenland – liegen von Deutschland weit entfernt. Die Nachbarschaft eines Reichen und eines etwas Ärmeren kann unterschiedliche Folgen haben, positive wie negative. Für die Polen sollte es eine wirtschaftliche und zivilisatorische Herausforderung sein, die es gilt, kühn und ohne Komplexe anzunehmen. In Deutschland dagegen darf man es nicht zulassen, daß sich eine Xenophobie verbreitet, die auf dem Nährboden des Wohlstands wächst. Für die Deutschen ist das natürlich nicht allein das Problem ihrer Beziehung zu den Polen, sondern ein Teil einer großen Frage der deutschen Kultur: Wie soll man seinen eigenen Reichtum nutzen? Soll man ihn zur Quelle von kleinbürgerlicher Zufriedenheit und von Überlegenheitsgefühlen machen, oder soll man ihn für den Bau eines erweiterten Europa, für die Öffnung den anderen gegenüber verwenden? Die Einstellung – beispielsweise der Berliner Presse – erst gegenüber den „polnischen Händlern“, dann gegenüber den „polnischen Autodieben“ („Kaum gestohlen, schon in Polen“) beweist, wie die alten antipolnischen Vorurteile ihre Form ändern, sich aber in der Substanz gleich bleiben. Am Stereotyp der „polnischen Wirtschaft“ ist schwer zu rütteln, mögen auch Tatsachen und Argumente eine andere Sprache sprechen.

Ein anderes Feld intensiver Zusammenarbeit sollte die Erarbeitung eines gemeinsamen Wissens und einer ähnlichen Haltung in bezug auf Osteuropa sein. In den polnischen Hoffnungen, die mit Deutschland verbunden sind, wird unter anderem angenommen, daß Deutschland „verwestlicht“ wurde. Polen hat auch das Bedürfnis, sich völlig zu „verwestlichen“, um die Grauzone zu verlassen, die immer ein Fluch der polnischen Geschichte war. Alle Sonderwege wären sowohl für Polen als auch für Deutschland in höchstem Maße gefährlich. Um sich vor ihnen zu sichern, sollten Deutsche und Polen den Sinn ihrer eigenen Verschiebung gegen den Westen verstehen und eine gemeinsame, konstruktive und offene Position gegenüber den Staaten und Nationen des Ostens wie der Ukraine, Belorußland, Litauen und natürlich Rußland erarbeiten. In dem Maße, wie Polen und Deutsche sich ein ähnliches Bild vom östlichen Teil des Kontinents erarbeiten, werden sie auch näher zusammenrücken.

Nicht nur in diesen beiden Fällen, in fast allen Bereichen des polnisch-deutschen Verhältnisses wird Berlin eine herausragende Rolle spielen. Die Polen sind sich der kontinuierlich wachsenden Bedeutung dieser gigantischen europäischen Metropole bewußt. Deshalb ist die Verlegung der Bundeshauptstadt nach Berlin in meinem Land auf allgemeine Zustimmung gestoßen. Kein Wunder: Wenn man sich schon entschieden hat, Deutschland als Freund zu sehen, kann die auch geographische Annäherung an sein kulturelles und politisches Herz nur Zufriedenheit wecken. Kazimierz Wóycicki

Übers: Waldemar Grzybowski