Solinger Boulevard

■ Idyll ganz ohne Neonazis: In einer Uraufführung am Oldenburger Staatstheater wird „Solingen“ hübsch entpolitisiert

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olingen ist überall, nur nicht in Oldenburg. Am Staatstheater hat man sich zwar mit der Uraufführung von John von Düffels neuem Stück die Stadt der Messer- und Scherenhersteller auf den Spielplan geholt. Das Solingen in dem 1993 durch einen Brandanschlag fünf türkische Bürger umkamen, kommt jedoch nicht auf die Bühne. Und das, obwohl die Protagonisten von „Solingen“ Lehrer in einer Schule sind, die tagtäglich Disziplinarschwierigkeiten mit rechtsgerichteten Schülern haben.

Der junge Stückeautor John von Düffel, selbst erst 29 Jahre alt und aus einem Lehrerhaushalt, gilt als einer der vielversprechendsten Nachwuchsautoren des deutschen Gegenwartstheaters und er ist zur Zeit Dramaturg am Oldenburger Theater. Eine grundsätzliche Fehlinterpretation seiner Absichten bei der Inszenierung kann also ausgeschlossen werden. Wie aber konnte die Stadt des fremdenfeindlichen Anschlages so weit von der politischen Landkarte verbannt und in ein gesellschaftliches Nirgendwo verlegt werden, Solingen zum Arkadien einer Pädagogenromanze werden? Ganz einfach: durch den Rückzug ins Private.

Und der ist radikal. Die Protagonisten in „Solingen“ heißen zwar bei John von Düffel „der Lehrer“ und „die Referendarin“. Aber gezeigt werden sie nur im Allerprivatesten, schon die Eingangsszene spielt im Bett. Praktischerweise versuchen die beiden nämlich dem Frust in der Schule durch eine frisch zusammengezimmerte Beziehungskiste zu entgehen. Das gelingt ihnen auch über weite Strecken. Munter und patent trohnt Elina Benecke als Referendarin in der mit Klassiker-Zitaten bedruckten Ikea-Bettwäsche. Wenn sie nicht Schulbrote schmiert, beschäftigt sie sich im wesentlichen mit Schiller. Dessen „Ästhetische Erziehung“ hat sie zum Thema der bevorstehenden Lehrprobe ihres zweiten Staatsexamens gewählt. Oder sie himmelt den Leher (Ulf Perthel) an, dem den ganzen Abend über in keiner Sekunde der Zitatenschatz der deutschen Klassiker auszugehen scheint. Ununterbrochen duellieren sich die beide Pädagogen mit dem deutschen Bildungsgut, schlagen sich die Zitate und Repliken um die Ohren, daß es für jede Quizshow eine Freude wäre – sicher für das Textgedächtnis der Schauspieler ein gutes Training.

Daß John von Düffel dem wortverliebeten Paar noch beim Vollzug des Beischlafs den Zitatenschatz auf den Hinterkopf schlägt, zeigt die Tendenz von „Solingen“. So komisch das Ritual auch wirkt: Auf des Lehrers werbendes: „Hast du gebetet zur guten Nacht, Desdemona“ folgt anschließend das Zusammenfalten der Boxershorts und das korrekte Anlegen eines Kondoms. Weiter geht es zur praktischen Ausübung, allesdings immer noch vollmundig mit synchronem Zitatenfeuer: „Durch diese hohle Gasse muß er kommen“ als verbales Crescendo, mit dem die Pädagogen den Höhepunkt erreichen. Spätestens hier ist die ausschließlich private Perspektive zur altbekannten Boulevard-Komödie geworden.

Die Inszenierung von Sylvia Richter tut dazu ihr übriges. In immergleichem hyperaktivem Ton läßt sie den Text herunterspielen. Elina Benecke als Referendarin und Ulf Perthel als der Lehrer haben dadurch gar keine andere Chance, als die letzten tiefen Momente und gar das Erschrecken über die nicht ganz so heile Welt in ihren Klassenzimmern und in den Nachrichten in platter Empörung und Munterkeit zu ertränken.

Die flammende Gesellschaftskritik sei tot, erklärte Jungautor Düffel im Interview; die Leute wollten nicht platt belehrt, sondern gut unterhalten werden. In der Tat, das Problem ist nicht neu. Nur: Dabei das ent- oder weder zu vermeiden und thematisch Interessantes mit einem Mindestmaß an Amüsement zu verbinden, das gilt jenseits von Oldenburg als die Basisanforderung an junge Theaterautoren.

Düffels Lösungsvorschlag in Stückform liest sich da wie der opportunistische Kniefall vor Platzausnutzung, Abonnentenpublikum, den Zwängen des Kleinstadttheaters und einem halbherzigen Versuch, mit billigem Etikettenschwindel doch an den Themen zu partizipieren, die in den Leitartikeln diskutiert werden.

Dieses „Solingen“ soll den Oldenburger Spielplan mit einem aktuellen, gesellschaftkritischen Thema aufpeppen. Doch auf der Bühne bleibt die Ruhe gewahrt. Wirklich Brisantes kommt nicht vor den Vorhang. Weder wird die deutsche Kleinstadt der tüchtigen Messer- und Klingenschmiede im Jahre zwei nach dem schockierenden fremdenfeindlichen Anschlag gezeigt, noch werden tiefere Einblicke in den Krisenherd Schule mit seinen überforderten Lehrern, Disziplinarproblemen und Rechtstendenzen unter Schülern gewagt. Im Stadttheater bleibt alles beim Alten. Statt unterhaltende Stücke mit gesellschaftlichen Bezug zu schreiben: laue Kost aus der norddeutschen Tiefebene. In Oldenburg verliert selbst Solingen seine Brisanz. Susanne Raubold

Weitere Vorstellungen am 13., 15., 17. und 21.10. um 19.30 im Oldenburgischen Staatstheater