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: Das Hönkel-Symbol „Bolle“

Die am 1. Mai 1987 abgebrannte Bolle-Filiale in Kreuzberg, Ecke Wiener Straße, ist noch immer ein Trümmergrundstück. Seit 1994 wird das eingezäunte Gelände jedoch genutzt, um dort Nagetiere freizulassen! Anfangs waren es junge Frauen, die, nach allen Seiten sichernd im Dunkeln mit einer braunen Maus in einer nichttötenden Mausefalle an den Bolle-Zaun traten, wo sie die Maus in die Freiheit entließen: mit einem Seufzer der Erleichterung.

Bald folgten jüngere Kinder, die dasselbe taten, jedoch ungenierter und mit zahmen, hellen oder schwarzweißgefleckten – Mäusen. Es handelte sich dabei zumeist um mongolische Springmäuse, von denen die Kinder zu Recht annehmen durften, daß sie dort draußen die Auflösung des Käfigs überleben würden.

Als mit dem albernen „Piercing“ und „Tatooing“ die Laborratten langsam aus der Mode kamen, sah man gelegentlich auch waschechte Punker am Bolle- Zaun, wo sie sich umständlich von ihren „Rättinnen“ verabschiedeten: „Es war eine dufte Zeit!“

In Kreuzberg vermehren sich seit Jahren die Hausmäuse. Eine entfernte Bekannte dort fängt ihre regelmäßig im Abfalleimer – mit Käseresten. Den Eimer deckt sie mit einem Aktenordner ab und trägt ihn raus – zu Bolle. Es gibt übrigens eine Schutzpatronin, die vor allem Säufern gegen Mäuse und Ratten hilft: die heilige Gertraut, sie steht an der gleichnamigen Brücke beim Spittelmarkt.

Die meisten Mäuse kommen jedoch auch so vom Bolle-Gelände nicht weit: ununterbrochen fließt der Verkehr am Görlitzer U-Bahnhof. Und dann führen türkische Jugendliche gerne ihre Pitbulls an die alte Platane vor der Bolle-Ruine. Nebenan ist das „White Horse“, früher ein Puff, heute eine türkische Männerkneipe, und schräg gegenüber das „Morgenland“, das erste Kreuzberger Musik-Café für Deutsche und Türken. Bis zum Abfackeln des Supermarktes 1987 war dort ein Laden für Heimwerker, der sich – ohne Bolle – nicht mehr halten konnte.

Auch das in jener Nacht „befreite Gebiet“ wurde nicht lange gehalten, seit der Wende sind darüber hinaus die Plünderer von damals schwerem ökonomischem Druck ausgesetzt, dieser mag das seine zum Mäuse-Aussetzen beitragen.

Der einzige, der direkt von der damaligen „Gewaltexplosion“ profitiert hat, ist Stefan Krautschik, ein Geograph, der erst einen Job bei der „750-Jahr-Feier“ hatte, um dann, genau am 1. Mai – als der Ärger über die ganze Feierei in den „Kreuzberger Krawallen“ kulminierte –, ausgerechnet zum Leiter der Pressestelle des Kreuzberger Bezirksamtes berufen zu werden.

Als solcher verfaßte er immerhin die bisher gründlichste Studie über die Geschichte des Bolle- Grundstücks (Im letzten Band der Historischen Kommission veröffentlicht). Sie beginnt mit dem Grundstücksspekulanten Hartung, der 1888 das Gelände Wiener Straße 1–6 kaufte, um darauf ein Mietshaus zu errichten. Danach erwarben mehrere Wolffs die Immobilie. Bevor Bolle seinen Supermarkt dort eröffnete, war das im Krieg teilweise zerstörte Haus ein Kino.

Während der Regionalforscher Salm-Schwader die Ursache für die Supermarkt-Zerstörung in einer Bolle-Spargelanzeige sieht, auf der damals Käthe Be, Assistent des Feuerkünstlers Kain Karawahn, posiert hatte: wobei er das Gemüse wie Dynamitstangen in der Hand hielt, ist Krautschik aus naheliegenden Gründen und zusammen mit der Polizei der Meinung, daß es einen – sogar geständigen – Einzeltäter gibt: den 29jährigen Serienbrandstifter und Gelegenheitsarbeiter Armin St., der laut Tagesspitzel „keine Bindungen in der Stadt hatte“. Helmut Höge

wird fortgesetzt