Schule der Wahrnehmung

Neue Architektur: Wie eine Blüte entfaltet sich der Neubau der jüdischen Grundschule in Grunewald. Formenreichtum überrascht die Sinne und betont die Verweigerung der Norm  ■ Von Katrin Bettina Müller

Das Leben ist ein Abenteuer. Davon müssen die kleinen Schüler der neuen jüdischen Grundschule in der Charlottenburger Waldschulallee überzeugt sein. Denn der kürzlich eingeweihte Bau des Architekten Zvi Hecker empfängt sie mit einem Hof, dessen ungewohnter Formenreichtum die Sinne überrascht. Muß man nicht staunen, daß Häuser sich so „schnittig“ in die Kurve legen können? Und kitzeln nicht die verborgenen Winkel zwischen den Wänden die Neugierde, tiefer in die „Schulstadt“ vorzudringen?

Und wohin führt diese Treppe, die sich an der rechten Außenmauer so einladend in den ersten Stock schiebt? Tatsächlich bringt sie den Besucher zum Sekretariat und Lehrerzimmer, um sich von dort zu den Klassenräumen im ersten Stock der fünf Pavillons weiterzuschlängeln, die sich im Grundriß wie die Blätter einer Blüte um den Hof gruppieren. Ebenerdig läßt sich darunter die Vorschule erreichen.

Doch das ist nur einer der möglichen Zugänge vom Hof. Verliert man allmählich die Angst vor dem Fremden, teilt er seine Ordnung mit. Aus den weiß verputzten Wänden der spitzwinklig zulaufenden Gebäude springen niedrige Mauern vor. Sie betonen durch die Abweichung die Spannung der gekrümmten Wandflächen.

Ebenso paraphrasieren vorgesetzte Stahlrahmen deren Schwung. Dies Auffächern der Linien rhythmisiert den Raum und erzeugt einen schnellen Wechsel der Bilder. Unterschiedliche Fensterformate unterstreichen die Vielfältigkeit der Formen.

Im Pavillon am linken Rand des Hofes erlauben Glastüren den Eintritt in den holzverkleideten Theatersaal, der auch als Synagoge genutzt wird. Eine über drei Geschosse ansteigende Treppenrampe, die zur Zuschauertribüne und zu den teils über Dachterrassen verbundenen Facharbeitsräumen im 2. Stock führt, schließt seitlich den Gebäudefächer ab.

Mehr als bloße Symbolik

Traut man sich zwischen die spitzen Gebäudewinkel, stößt man auf das kleine Foyer, dessen Boden mit Naturbruchsteinen aus Jerusalem gestaltet ist. Von hier wird der Blick durch Glastüren schon in die Tiefe des Speisesaals gezogen, der sich zum rückwärtigen Hof verbreitert.

Dort erwartet die Kinder ein anderes Bild. Zwischen die Bausegmente schieben sich bis auf den Boden reichende Dreiecksgiebel. Sie verstärken die Assoziation, sich in einer eigenen Stadt zu bewegen. Klein ist diese Stadt nur insofern, als sie vielfältige Strukturen auf gedrängtem Raum verdichtet – keinesfalls aber im Sinne von niedlichen Puppenhäusern.

1991 gewann der israelische Architekt Zvi Hecker den Wettbewerb für die nach dem verstorbenen Gemeindevorsitzenden Heinz Galinski benannte Schule. Den Grundriß entwickelte er aus dem Leitmotiv der Sonnenblume, die er als „Abbild des Universums“ und Metapher für das „Licht des Wissens“ sah.

Doch die Architektursprache der Schule, die er mit seiner Berliner Kontakt-Architektin Inken Baller baute, reicht über diese Symbolik hinaus. Was Raum, Architektur und Stadt sein könnten, wenn nicht Produktionsnormen und Verkehr ihre Struktur dominieren, lehrt sie unabhängig von Lehrplänen. Sie vermittelt die Erfahrung der Kommunikation unterschiedlich geprägter Räume und fordert zu eigenen Entscheidungen auf. Soweit Architektur überhaupt ethische Kategorien transportieren kann, entspricht sie den Idealen von „Eigenverantwortung“ und „Toleranz“.

Der Geschichte der Vernichtung der Juden in Deutschland trägt die 1986 wiedergegründete Schule, die jetzt den ersten Neubau einer jüdischen Schule in Berlin nach dem Holocaust bezogen hat, durch zwei Elemente Rechnung. Wenn in geraden Gängen überraschend die Wand ausschert, um Anlauf zu nehmen für den gewundenen Gang in den nächsten Pavillon; wenn an Treppenabsätzen der Blick über Brüstungen hinweg in die Tiefe fällt; wenn die unregelmäßige Grundrißfigur immer wieder Nischen und verborgene Räume hervorbringt; dann ist dies mehr als eine virtuose Kapriole.

Jedes individuelle Detail betont die Verweigerung der Norm: Denn sich dogmatisch an Normen zu halten erwies sich in der Vergangenheit als lebensbedrohende Taktik der Verfolger. Das zweite Element, das für eine Präsenz der Geschichte in der Gegenwart sorgt, ist die Betonung der Mauern. Mit ihnen geht Zvi Hecker auf ein Bedürfnis nach Schutz und Rückzug ein, nach Abgrenzung und Intimität.