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Die wandelnde Mitte

Die SPD-Spitzenkandidatin Ingrid Stahmer verkauft im Berliner Wahlkampf vor allem sich selbst: kompetent, nett – und sauer auf die Bonner Genossen  ■ Von Torsten Preuß

Jetzt sitzt sie da und schweigt. Und das, obwohl sie gerne redet, streitet und argumentiert. Ihre langen schmalen Finger ziehen eine „Marlboro 100“ aus dem Päckchen, dann ein Feuerzeug aus einer dunkelroten Wildledertasche, und wenig später blickt sie etwas verloren dem Rauch nach, der sich langsam im Raum verteilt. Viele sind nicht gekommen zum Treffen mit der Spitzenkandidatin der Berliner SPD für das Amt des Regierenden Bürgermeisters. Ingrid Stahmer hatte die Berliner MdBs ihrer Partei zum Essen eingeladen – von zwölf kamen vier. Die streiten sich nun untereinander über Sinn und Unsinn der Diätenregelung, über die Krise der Partei, über Rücktritte und Austritte. Ihr Blick verliert sich im Nebel ihrer Stammarke. Was um Himmelswillen soll sie zu alledem noch sagen? Sie macht hier Wahlkampf, und die machen ihn dort kaputt. „Verheugen zurückgetreten!“ Die letzte Hiobsbotschaft aus Bonn. Ihr Pressemitarbeiter drückte ihr am letzten Freitag die Meldung in die Hand, kurz vor einem Liveauftritt. In die Fernsehkamera stammelte sie dann „irgendwelche Floskeln“, aber innerlich dachte sie nur dieses eine Wort: „Scheiße.“

Ihr Wahlkampfleiter Christian Hoßbach zuckt hilflos mit den Schultern! „Die nehmen in Bonn auf uns eben keine Rücksicht.“ Wie wahr. Als wäre die Gefahr, daß die Berliner Genossen vor ihrer schwersten Pleite der Nachkriegszeit stehen, nur ein schlechter Witz des Klassenfeindes, agiert die Spitze der SPD derzeit wie eine revolutionäre Zelle mit Kampfauftrag zur Selbstzerstörung. Immerhin, die Taktik geht auf, die Partei befindet sich im freien Fall. Bis sie am 22. Oktober in Berlin aufschlagen wird, redet Ingrid Stahmer in den Straßen der Stadt trotzig auf die Menschen ein. Tenor: Verwechselt uns nicht mit denen in Bonn, wir in Berlin sind anders.

Bisher umsonst.

Grottenschlechte 28 Prozent hatte die SPD nach einer Umfrage der Berliner Zeitung letzte Woche in der Stadt. „Ach ja, die Zahlen“, seufzt sie: „Die können stimmen – oder nicht.“ Stahmer hatte deutlich hinter Momper gelegen, als am 5. Februar 1995 12.726 Berliner Sozialdemokraten zur Urabstimmung schritten, um ihre Nummer eins zu küren. Es war eine Entscheidung zwischen Megaphon und Mikrofon, zwischen laut und leise. Walter „mit Bums“ Momper oder Ingrid „die Blasse“ Stahmer.

Der Möchtegern-Polit-Rambo Momper („Ich will nicht geliebt, ich will gewählt werden“) ging der Basis damals mit seinem Stil mehrheitlich schwer auf den Keks, die Partei wollte Ruhe, also gewann Ingrid Stahmer mit 57 Prozent der Stimmen, und seitdem haben die Sozialdemokraten eine Spitzenkandidatin, die sogar der politische Gegner „nett“ findet. Nett gleich langweilig gleich ungefährlich – so einfach ist das in der Politik, und das hat den komischen Effekt, daß Ingrid Stahmer sich im Wahlkampf mit den Worten verkaufen muß: „Ich bin gar nicht so nett.“

Das aber auch zu beweisen fällt ihr schwer. Die Medien wollen Schlagzeilen drucken, Angriffe und Paraden senden – und die liefert sie nicht. „Mein Politikstil ist eben anders. Mehr Argumente, weniger Schlagwörter.“ Nur selten kann sie sich beim Lesen all der Meinungen, Kommentare und Porträts über sie freuen. Zuletzt, als sie in der ZDF-Sendung „Was nun, Herr Waigel“ als Überraschungsgast auftrat. Theo hatte nichts zu lachen. „Beinhart, aber freundlich“ beschrieb eine Zeitung am nächsten Tag ihren Auftritt. Und für die, denen das zu wenig ist, fügt sie hinzu: „Wer Stahmer gewählt hat, der muß auch Stahmer nehmen.“

So wie sie ist.

Und wie ist sie nun? Wirklich nett? Das auch. Aber nur nett? Das nicht.

Wer sie beim Verhandeln erlebt hat, sagt, daß sie „zäh und stur sein kann“. Manchmal wirkt sie herrisch, fast arrogant, manchmal kühl und überlegt. Je nachdem mit wem sie spricht. Nur eins bleibt immer gleich: ihre Stimme. Die hat den Blues – tief und rauh, aber herzlich. Sie ist 1,80 Meter groß, schlank. Ihre Eltern wollten, daß sie ein Junge wird. Das prägt. „Es fiel mir schwer, ein Mädchen zu werden.“ Wer nah genug dran ist, kann es förmlich riechen: Ihr Lieblingsparfüm ist „Etroscan“, ein französischer Herrenduft.

„Wenn ich nur nett wäre, hätte ich mich in all den Jahren wohl kaum durchgesetzt“, sagt sie. Als Sozialexpertin hat sie sich den Ruf einer Frau erworben, die kompetent, sachbezogen und hartnäckig engagierte Sozialpolitik betreibt. Schritt für Schritt hat sie sich von der Sozialarbeiterin bis zur Senatorin für Gesundheit und Soziales und Bürgermeisterin unter Walter Momper im rot-grünen Senat 1989 hochgearbeitet.

Das „avantgardistische Experiment“, wie sie heute sagt, dauerte gerade ein Jahr. Die Berliner jagten Momper und Co. 1990 wieder aus dem Amt, ein Grund, warum sie sich im Wahlkampf weigert, einzig auf Rot-Grün zu setzen. Daß sie als „links“ gilt, ist für sie eher unwichtig. „Links oder rechts, ich habe Schwierigkeiten mit der Ausgrenzung die dahintersteckt. Wenn es der Sache dient, rede ich mit vielen.“

Ingrid Stahmer, die wandelnde Mitte. Um zu erreichen, was ihr wichtig erscheint, kennt sie kaum ideologische Schranken. „Koalitionen werden nicht nach Farben, sondern nach Lösungen gebildet.“ Nur mit der PDS will sie keine Kompromisse machen. „Das geht hier nicht. Schließlich stand die Mauer in Berlin.“

Den potentiellen Wählern, die sie an diesem Tag im Berliner Bezirk Marzahn trifft, verspricht sie nur sich selbst: „Ich werde mich für das einsetzen, wofür ich stehe.“ Viel mehr bekommen auch die Bewohnerinnen eines Altenheims beim Kaffee nicht zu hören. Kein „Wählen Sie mich, dann ...“ Nach zehn Minuten ist sie wieder draußen und sitzt gereizt im Wagen: „Solche Termine sind manchmal furchtbar. Ich kann mich doch nicht vor die alten Leute stellen und irgendwelche Versprechen machen.“ Zumal die ohnehin eher bescheiden wären.

Wo andere von „Visionen einer Weltstadt“ reden, fragt sie welche Auswirkungen solche Pläne auf die Menschen haben. „Gemeinsinn oder Ellenbogen“, das sei doch die Frage. Was nütze es, wenn die Menschen im Metropolenstrudel untergehen? Reichen solche Wahrheiten, um an die Spitze der Stadt zu kommen? Den Zahlen nach zu urteilen: nein, ihren persönlichen Erfahrungen nach: ja.

An der Spitze einer Seilschaft zieht sie etwa 100 SPD-Frauen zum symbolischen „Gipfelsturm“ auf den Berliner Kreuzberg. Schulterklopfen überall, Frauen mögen ihre Art. Endlich mal welche, die ihr zujubeln. Und was sagt sie den Wählerinnen? „Ich werde nicht nur Politik für Frauen machen.“

„Bleiben Sie, wie Sie sind“, sagt eine junge Genossin. Einem Mann, der sich mehr „Power“ im Wahlkampf wünscht, hält sie entgegen: „Warum sollte ich jemanden als Idioten beschimpfen, wenn ich ihn später noch einmal brauchen könnte.“ Wegen solcher Sätze wird sie oft als „harmoniesüchtig“ bezeichnet – was sie aufregt: „Ich will nicht, daß die Leute sich versöhnen, sondern daß sie sich sich offensiv auseinandersetzen.“

1971 fing sie neben ihrem Beruf als Sozialarbeiterin eine Ausbildung als Trainerin für Gruppendynamik, Schwerpunkt Gesprächsführung an. Fünf Jahre lang. Seitdem liest sie Bücher zum Thema und betreibt Sozialpsychologie wie ein Hobby, was unter anderem erklärt, warum sie so geschickt im Verhandeln ist.

„Genau zu analysieren, wer warum bestimmte Interessen vertritt, und die dann so zu steuern, daß am Ende die Lösung eines Problems steht, das habe ich dabei gelernt“, sagt sie und weiß: „Miteinander reden ist die beste Konfliktlösungsstrategie.“ Deshalb hat sie auch versucht, Scharping oder Schröder im Sommerlochgewitter an einen Tisch zu bekommen – was nicht gelang.

Angeschlagen zieht Ingrid Stahmer weiter durch die 23 Bezirke und versucht die Wähler persönlich davon zu überzeugen, daß ihre Art, Politik zu managen und zu verkaufen, mehr bringt als jede Show. Anders als ihr Konkurrent Eberhard Diepgen, der in einem umgebauten Bus, dem „Diepgenmobil“ wie einst Bill Clinton publicityträchtig durch die Straßen rollt, fährt sie im Dienstwagen, einem unauffälligen Mercedes 200, von Termin zu Termin.

Zwei Millionen kostet der Wahlkampf der SPD, die CDU hat eine Million mehr.

Darin erkennen die Menschen sie nicht einmal, wenn sie im Stau steht, allein schon deshalb, weil sie sich mit tiefen Zügen selbst einnebelt. Öffentlich zu rauchen, kann sie sich nicht erlauben, sofort flattern dann wieder Protestbriefe vom „Bund der Nichtraucher“ oder enttäuschten Bürgern in ihr Büro. Aufzuhören hat sie aufgegeben, „der Streß ist zu groß“. Also hält sie in der einen Hand die Zigarette, in der anderen das Handy und managt aus dem Auto ihren Wahlkampf und ihr Amt als Senatorin für Soziales in der Großen Koalition. Und immer wenn sie ein Problem gelöst hat, kichert sie kurz und trocken ins Telefon. Selbstbewußt ist sie, keine Frage. Und das hat sie sich schwer erarbeitet.

Ihr Vater war der Ansicht, „daß meine Fähigkeiten woanders als in meinem äußeren Erscheinungsbild liegen“. Sie war nie eine, die morgens Stunden vor Kleiderschrank und Spiegel verbringt. Das änderte sich auch nicht, nachdem sie den Kostümbildner Wolfgang Kalk getroffen hatte. Kalk fand, daß man auch äußerlich ihrem Image als „Sozialtante“ etwas entgegensetzen müßte. Nun läßt sie ihn die Kleider aussuchen. Die Röcke etwas kürzer, die Farben nicht so streng. Diese Woche ist die Frisur dran: Die Löckchen an den Seiten sollen ab. Obwohl sie bezweifelt, daß Friseur und Kostümbildner eine Wahl entscheiden. Aber ganz ohne Kompromisse mit dem Zeitgeist kann auch eine Ingrid Stahmer keinen Wahlkampf führen. Und gewinnen schon gar nicht.

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