■ Jetzt geht's den „Gutmenschen“ an den Kragen. Dabei kommt eine fatale, deutsche Alternative zum Vorschein:
: Entweder spießig oder frivol

Gewisse, nicht mehr ganz junge Männer hauen zur Zeit auf den Putz. Ihr Feind ist – „das Gute“. Wer diesem abstraktesten aller Werte noch nachjagt, muß als deutscher Gutmensch in der Ecke stehen. „Das Gute“ gilt als spießig, und man setzt ihm das Frivole entgegen.

Damit meint man, sich undeutsch, d.h. weltmännisch urban zu geben. Man bewegt sich aber im Herzen des deutschen Syndroms: in der scheußlichen Alternative zwischen dem Spießigen und dem Frivolen. Tertium non datur. Zur Zeit ist das Frivole modern, und das Spießige muß sich ducken. Das Spießige ist das Gutmenschtum, die Political Correctness, das Streben nach Umweltschutz, Frieden und Gerechtigkeit. Mit Luise Rinser, Annemarie Schimmel, Dorothee Sölle, Christa Wolf und anderen wohlmeinenden Omas zugleich werden die guten Ideen des Abendlandes mit der Fliegenklatsche erschlagen. „Allgemeinwohl“, „Lebensbewahrung“ – das hängt den Frivolen zum Hals heraus, und sie bringen diese Ziele mit Scheinheiligkeit und Mief in Verbindung, gegen den sie sich – wenn sie über Wein- und Käseboykott lachen – mit einem Hauch des Parfums „Chirac“ versehen.

Das Dritte, das uns fehlt, ist ein selbstbewußter, aufrecher Bürgersinn, der ohne Trauerarbeit und Kerzenschein seinen Mann steht; die Eigenschaft, die die Römer „virtus“ nannten: eine lebenstüchtige, couragierte Ausrichtung auf das Wohl der Allgemeinheit. Das Fehlen einer bürgerlichen Revolution in Deutschland macht sich nach wie vor bemerkbar. Wir kennen nur die Wahl zwischen verdruckster Kleinbürgerlichkeit und frecher Libertinage, die als moralunabhängiges, angemaßtes Herrenmenschentum auftritt. Dessen Frivolität ist nur die Kehrseite des Spießigen: ein immer wieder konvulsivisch aus dem Miefigen ausbrechender Freiheitsdrang, der über sich kein moralisches Gesetz dulden will. „Hinter die Schule laufen“ nannte Thomas Mann diesen deutschen Drang.

Nicht das Gutmenschtum ist das Deutsche, sondern die Verfangenheit in dieser scheußlichen Alternative. Es handelt sich um die Pole, zwischen denen sich Nietzsche bewegte: Die protestantisch-bigotte Stickluft in der von Großmutter, Mutter und Tanten beherrschten Naumburger Wohnung einerseits und die freien Berggipfel von Sils Maria andererseits, von denen herab er nach den „Barbaren des 20. Jahrhunderts“ rief, das „Raubtiergewissen“ unserer Vorfahren zurückverlangte und heidnischen Lebensrausch beschwor.

Welch ein Irrtum, den Hang zum Guten als deutsche Neigung mißzuverstehen, als Neigung, die in Scheinheiligkeit enden mußte und Auschwitz als adäquates Ergebnis produzierte!

Dieser Irrtum geht mit der historischen Fehleinschätzung einher, daß sich die Deutschen, die „Innerlichkeitsweltmeister“, in der Romantik von der garstigen Welt ab- und dem Guten, Schönen und Edlen zugewendet hätten (Nikolaus v. Festenberg im Spiegel vom 25. 9.). Tatsächlich waren dies die Werte der Aufklärung, die von der Romantik überwunden wurde. Das abstrakte Gute: Die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit – hatten in Frankreich revolutionäres Unheil gestiftet, und infolgedessen wandte man sich in Deutschland dem Wirklichen, dem Stofflichen, dem Individuellen, dem Konkreten – und dem Bösen zu. Man tat es ausdrücklich und naturphilosophisch fundiert. Schelling sagte: „Wäre im Körper nicht eine Wurzel der Kälte, so könnte die Wärme nicht fühlbar sein ... Daher dialektisch ganz richtig gesagt wird: Gut und Bös seien dasselbe, nur von verschiedenen Seiten gesehen, oder, das Böse sei an sich, d.h. in der Wurzel seiner Identität betrachtet, das Gute, wie das Gute dagegen, in seiner Entzweiung oder Nicht-Identität betrachtet, das Böse.“ In diesem moralischen Schillern, in diesen dämonischen Facetten gerät das Gute, Edle und Schöne ins Wanken.

Die Tatsache, daß die Romantiker im Unterschied zu ihren neoromantischen Nachfolgern nichts Böses im Sinn hatten, ist dadurch zu erklären, daß sie als Kinder der Aufklärung in einer Hochkultur aufgewachsen waren; daß sie von dem Geist Kants, Lessings und Schillers (der noch dem Guten, Schönen und Edlen gedient hatte) durchgefärbt waren und ihn ruhig ein bißchen mit Füßen treten konnten, ohne daß sich das gleich auswirken mußte. Die Romantiker fühlten sich ohne ethische Maximen sicher, weil sie sie mit der Muttermilch getrunken hatten. Sie konnten sich der Führung ihres individuellen Genies überlassen. Sie wußten gar nicht, was das Böse ist, mit dem sie da flirteten – was innerhalb des Teufelspakts, den sie als kribbelndes Motiv etndeckten, alles möglich ist! Das herauszufinden blieb späteren Generationen überlassen. Arglos hatten ihnen die Romantiker die Tür in diese Bereiche geöffnet.

Nicht zufällig ist der Teufelspakt das Leitmotiv in Thomas Manns „Doktor Faustus“, wo die Elemente des Urdeutschen zusammengefaßt sind. In diesem Roman, in dem alle prägnanten deutschen Typen vorgeführt werden, kommt der Gutmensch gar nicht vor – bis auf Frau Schweigestill, die den (infolge des Teufelspakts) wahnsinnig gewordenen Helden bis zu seinem Ende pflegt. Hier wich Thomas Mann von dem Vorbild „Nietzsche“ ab: während dieser aufgrund seines Wahnsinns in die Stickluft der Naumburger Wohnung zurückmußte, um einmal jährlich herausgeputzt einer ausgewählten Verehrerschar präsentiert zu werden, läßt Thomas Mann seinen Helden in den Genuß des wirklich Guten kommen.

Diese Idee des wirklich Guten müssen wir uns bewahren. Das deutsche Abgleiten ins Böse ist nicht die Folge einer übertriebenen Gefühlsduselei im Guten – oder nur insofern, als diese das „Hinter-die-Schule-Laufen“ provoziert hat. Zwischen dem Hang zum Guten und dem Praktizieren des Bösen aber lag eine ausdrückliche, ästhetisch und philosophisch legitimierte Öffnung für die Nachtseiten der Kultur, für das Wertfrei- Eigentümliche – für das Böse.

Diese Libertinage ist Auschwitz anzulasten – und nicht, wie es jetzt in kühner Verdrehung, in frecher neuer Dolchstoßlegende heißt, dem spießigen Hang zum Guten und Friedlichen. Erst der frivole Gegenschlag brachte das Problem – und diesen ist man wieder im Begriff zu führen. Auch wenn man gewisse Idiosynkrasien gegen gewisse Spitzendeckchen in gewissen Wohnzimmern hat, sollte man sich vor diesem neuen Gegenschlag hüten. Die kecken Impulse könnten sich von den netten Leuten, die sie jetzt hegen, unabhängig machen. Sibylle Tönnies