: Die schlampige Los Angeles Police
Einen Tag nach dem Freispruch O. J. Simpsons vom Vorwurf des Doppelmordes geben die ersten Geschworenen der neugierigen Öffentlichkeit ihre Beweggründe preis ■ Aus Washington Andrea Böhm
Tag Eins der Post-Simpson- Ära. Wie Sieger und Verlierer des Superbowl-Finales im Football haben die Beteiligten die Nachbereitung begonnen. In der ersten Pressekonferenz legten die Verteidiger und die Simpson-Familie die Geheimnisse ihres Erfolges dar. „Gottesfürchtigkeit“ war für Simpsons Mutter Eunice der Schlüssel zum Erfolg – Simpsons Staranwalt Johnnie Cochran hingegen bedankt sich eher beim Los Angeles Police Department. Wie kein anderer hatte Cochran den Geschworenen eingehämmert, daß es in diesem Prozeß nicht um Beweise gehe, sondern um Rassismus.
Doch schon am Abend tat sich im „dream team“ der Verteidigung ein schweres Zerwürfnis auf. Robert Shapiro, Simpsons jüdischer Anwalt, der Cochran angeheuert hatte, will mit seinem schwarzen Kollegen in Zukunft kein Wort mehr reden, weil dieser in seinem Schlußplädoyer den Polizisten Mark Fuhrman aufgrund seiner rassistischen Ausfälle mit Adolf Hitler verglichen hatte. Außerdem, sagte Shapiro, sei er immer dafür gewesen, den Faktor Hautfarbe aus der Verteidigungsstrategie herauszulassen. „Aber Cochran glaubt eben, daß in diesem Land alles mit der Hautfarbe zusammenhängt. Ich glaube das nicht.“
In der zweiten Pressekonferenz brach der afroamerikanische Staatsanwalt Christopher Darden, der in den Prozeßmonaten in Drohbriefen und -anrufen als „Verräter an seinen schwarzen Brüdern“ beschimpft worden war, in Tränen aus. Staatsanwältin Marcia Clark nahm die Niederlage zur Kenntnis, lobte den unermüdlichen Einsatz aller Mitarbeiter und deren „Teamgeist“, und versprach, „beim nächsten Mal zu gewinnen“.
Es gibt aber kein nächstes Mal. Der Fall Simpson ist geschlossen. Das betonte auch Gil Garcetti, der Bezirksstaatsanwalt. Zuvor hatte er sich, ohne mit der Wimper zu zucken, ausdrücklich bei der Polizei der Stadt für ihre Ermittlungsarbeit bedankt. „Das Urteil der Geschworenen basierte auf Emotionen, nicht auf Vernunft.“
Und was sagen die Geschworenen? Lionel Cryer, ein 43jähriger Afroamerikaner, in den letzten neun Monaten der Fernsehnation nur als „Jurymitglied Nr.6“ bekannt, ist einer der ersten Geschworenen, die von der Urteilsberatung berichten: Nicht von Johnnie Cochrans Predigten über Rassismus oder Marcia Clarks Plädoyer gegen gewalttätige Ehemänner habe man sich beeindrucken lassen, sondern von der schlampigen Ermittlungsarbeit der Polizei und der oft unschlüssigen Präsentation der Beweise durch die Staatsanwaltschaft. Schon nach einer Stunde Beratung hätten zehn Geschworene für nicht schuldig, zwei für schuldig gestimmt. Als man dann noch einmal die Ungereimtheiten der Anklage durchging — vom dubiosen Umgang der Polizei mit Blutproben bis zur Aussage des Chauffeurs, der Simpson in der Tatnacht zum Flughafen gefahren hatte — habe man sich innerhalb weniger Stunden auf „nicht schuldig“ geeinigt.
Cryer verabschiedete sich von Simpson nach dem Urteilsspruch, indem er ihm die geballte Faust entgegenreckte. Andere Geschworene waren nicht zu Sympathiebekundungen zu bewegen. „Wahrscheinlich hat er's getan“, ließ die Geschworene Nr.3, die 60jährige Anise Aschenbach durch ihre Tochter der Presse ausrichten. „Aber die Beweise reichten einfach nicht aus.“
266 Tage waren sie zwangskaserniert, durften nur unter Bewachung telefonieren, Angehörige nur zu Besuchszeiten empfangen und nur zensierte Zeitungen lesen. Diese Tortur, sagte Cryer, habe sicher Einfluß auf das Tempo gehabt, mit dem man nach nur vier Stunden Beratung (und 50.000 Seiten Prozeßprotokoll, über 130 Zeugen und 1.100 Beweismittel) zu einem Urteil gekommen sei. „Wir wollten da raus!“
Im Fernsehen laufen unterdessen immer wieder die Bilder jenes Momentes, der buchstäblich das ganze Land in einem Akt kollektiver Arbeitsniederlegung vor dem Fernseher versammelte und dann, so die Washington Post, spaltete: Schwarze Amerikaner, die bei den Worten „nicht schuldig“ vor Glück weinten oder ins Dankesgebet versanken, während die Weißen neben ihnen fassungslos erstarrten. Selten war der Nation so eindringlich vor Augen geführt worden, wie weit die Wahrnehmungen und Welten von Schwarzen und Weißen auseinanderklaffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen