Schreiben aus Notwehr

■ Der Schriftsteller Till von Heiseler, Offiziersabkömmling und Auswanderer in spe, arbeitet auf die gesamtkunstwerkliche Ausdruckslosigkeit hin. Ein Porträt

Merhaba“, ruft Till von Heiseler, als ihm eine türkische Hochzeitsgesellschaft auf der Straße begegnet. Er bleibt stehen, um die fröhliche Gruppe genauer zu betrachten. Danach geht er zum libanesischen Falafel-Laden, um den Tag in seiner Kreuzberger Arbeitswohnung am Paul-Lincke- Ufer stilgerecht zu beschließen.

Manchmal fährt der Dramatiker auch den ganzen Tag lang mit der U-Bahn durch die Stadt, nur um Menschen zu beobachten. Dabei kommen Menschen in seinen Stücken eigentlich gar nicht vor. Heiselers Figuren haben keine Biographien, sie sind nur Sprecher der spröden, um sich selbst kreisenden Texte.

Der 33jährige spricht von den guten 70ern

„Meine Hauptfigur ist die Sprache“, sagt er, und darum tragen die Personen auch Namen wie „er“, „sie“, „F 2“ oder „Dritter Darsteller des Dichters“. Die letztgenannte Rolle aus dem noch nicht uraufgeführten Stück „Gladiatoren/Liebende“ von 1991 hat gerade Walter Schmidinger für eine Hörspielproduktion im Deutschlandradio Berlin übernommen.

Till von Heiseler führt selbst Regie. Er freut sich über solche Erfolge sehr, auch wenn er immer wieder betont, daß es ihm nichts ausmache, so gut wie unbekannt zu sein. „Auf Erfolg hin zu schreiben würde für mich entfremdete Arbeit, Selbstverlust bedeuten.“

Wir sitzen in seinem kleinen, karg möblierten Arbeitszimmer in der ruhigen Hinterhofwohnung. In der Gipsdecke über dem Hochbett ist ein Loch – der athletische Künstler hat dort, alpträumend vor einer Premiere, die Decke eingetreten. Extra für das Interview hat er einen zweiten Stuhl aufgetrieben. Auf diesem kauert er nun ohne Bodenkontakt und schimpft auf den „Massengeschmack“ und manchmal auch auf den „Kulturimperialismus der USA“.

Worte, die merkwürdig anachronistisch klingen. Und tatsächlich wird der 33jährige Autor, der seit vier Jahren in Berlin lebt, ein bißchen nostalgisch, wenn er von den Siebzigern spricht, der guten alten Zeit, als die Fronten zwischen Kunst und Kommerz, Konvention und Experiment noch klar waren und der Fortschrittsglaube auch die Kunst umfaßte. „Heute“, glaubt er, „haben viele Autoren nichts zu sagen, deshalb orientieren sie sich am Massengeschmack.“

Man könnte ihn für arrogant halten, wüßte man nicht, daß er die Berührung mit den einzelnen Atomen der „Masse“ offenbar nicht scheut. Weil er gut zuhören kann, erzählen ihm die Leute in den Imbißstuben und Vereinskneipen ihre Probleme und manchmal auch ihr ganzes mehr oder minder verkorkstes Leben, sagt er, und: „Ich interessiere mich für die Menschen, aber nicht für das Fernsehprogramm, das sie sehen.“ Also schreibt er Stücke und Hörspiele, denen man bedenkenlos das Siegel „garantiert unpopulär“ aufdrücken könnte. Die uferlosen Dialoge weisen auf die Sinnlosigkeit des Lebens und das Scheitern jeglicher Kommunikation, und immer wieder werden sie von Clownerien unterbrochen – Beckett läßt grüßen. Heiseler ist ein Erbe des absurden Theaters. Aber er will sogar dessen Bildersprache zerstören, bis hin zur völligen Ausdruckslosigkeit. Das nennt er eine „Ästhetik des Verschwindens“.

In der Uraufführung des lyrisch- fragmentarischen Stücks „Nadas Traum“ in Frankfurt/Oder hat der Autor seine Ideen konsequent umgesetzt: Die Zuschauer saßen knapp unter der Decke, gespielt wurde hinter und unter ihnen. Wer etwas sehen wollte, mußte sich den Nacken verrenken.

Trotzdem kamen manche Zuschauer sogar mehrmals wieder. Obwohl „Nadas Traum“ nur aus sorgsam zerhäckselten Sprachstücken besteht, entstand im Verlauf des Theaterabends doch etwas Einheitliches daraus. „Der Versuch, nicht Theater zu machen, hat nicht funktioniert“, resümiert der Autor ein bißchen enttäuscht.

Heiselers Zauberwort heißt „Differenz“. Nicht nur Text und Inszenierung sollen gegeneinanderstehen, seine Lieblingsregisseure sind Castorf, Schleef und Müller – sondern auch andere Künste werden ins Theater geholt, um den Text in Frage zu stellen und zu demontieren.

Ein interdisziplinäres Kunstverständnis, das Wagners Gesamtkunstwerk in sein Gegenteil verkehrt: Bilder, Klänge, Worte und Körper arbeiten zusammen, um sich letztlich aufzuheben. „Differenz in demselben Medium empfinde ich als Feigheit, als Zurücknahme der Aussage“, erklärt Heiseler. „In verschiedenen Medien dagegen setzen sich die Aussagen durch ihre Gleichzeitigkeit in Beziehung, ohne zu verwischen.“

Seit Jahren arbeitet er mit jungen Komponisten zusammen. Das jüngste Gemeinschaftswerk seiner interdisziplinären Künstlergruppe „hai gorgai“ ist die Performance „Die Stimme einer Frau“. Die Fotografin und Performerin Michaela Caspar, Heiselers Lebensgefährtin, spricht, singt und schreit die Klage einer Frau, die gegenüber ihrem Peiniger stets stumm bleibt. Dazu hat sie Fotos von Frauen mit eingehüllten Köpfen ausgestellt, und Conrado del Rosario hat eine Musik dazu geschrieben, die gerade die besonders trostlosen Passagen gern mit schönen, vergleichsweise eingängigen Melodien unterlegt.

Die Idee der Differenz spiegelt für Heiseler seine Alltagserfahrung mit Menschen aus völlig verschiedenen Bildungsschichten, Kulturkreisen und Altersstufen. „Die Welten einer alevitischen Mutter, eines HIV-infizierten Schauspielers und einer U-Bahn fahrenden Bosnierin setzen sich nur durch ihre Gleichzeitigkeit in Beziehung. Diese Differenz hat für mich etwas Magisches.“

Und auch er selbst sei für jeden ein anderer: „Für die einen ein brotloser Künstler, für die anderen vor allem ein Deutscher.“ Brotlos ist seine Kunst übrigens nicht: Seit 1992 bekommt er regelmäßig Stipendien. Auch über die Zukunft macht er sich keine großen Sorgen – nur vor einem Jahr, als Michaela Caspar die Wunschzwillinge Anton und Emilia zur Welt brachte, packten ihn kurzfristig Existenzängste: „Das war eine Zeit der Panik. Ich dachte: Hätte ich doch Jura studiert! Schließlich kann ich ja nichts außer schreiben.“

Kein Wunder, denn Till von Heiseler wollte schon als kleiner Junge Schriftsteller werden. 1971 veröffentlichte die Zeit eine kleine Geschichte des Neunjährigen. In seiner Familie hat das Schreiben Tradition: Die Schiller-Biographie des Großvaters Bernt von Heiseler steht ebenso in seinem Bücherregal wie die Erzählungen seines Urgroßvaters Henry.

Über Generationen dienten die von Heiselers als Offiziere am Petersburger Zarenhof, und auch Tills rasierter Kopf mit dem kantigen Kinn würde sich unter einer Offiziersmütze nicht übel ausnehmen. Widerspruchsloser Gehorsam ist seine Sache allerdings nicht. Innerhalb weniger Jahre flog der Junge von 14 Schulen: „weil ich nur etwas machen wollte, wenn ich es begründet bekam“.

Ziele: Ein Roman und ein Mexikoaufenthalt

Nach dem Abitur veröffentlichte er den Gedichtband „Schwarze Rosen“ und begann ein ungeliebtes Germanistikstudium. Weil er fürs Theater schreiben wollte, machte er in New York, Los Angeles und Paris eine Regieausbildung. In vielen seiner Stücke hat Heiseler selbst Regie geführt. Dafür fertigt er mit geradezu manischer Gründlichkeit Konzepte für die einzelnen Mitwirkenden an. Jedes Wort, jede Geste und jeder Ton sind genau geplant. Vor der Produktion der naiv-abgründigen, nur sieben Seiten dünnen Moritat „Der Gedichtemacher“ im Tacheles händigte er dem Komponisten ein 50seitiges Konzept aus.

Jetzt will der Lyriker und Dramatiker seinen ersten Roman schreiben – und auswandern, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit. In den letzten Jahren hat er Reisen in verschiedene südamerikanische Staaten unternommen, zuletzt war er in der aufständischen Region Chiapas in Mexiko. Zusammen mit seiner Familie möchte Till von Heiseler ein paar Jahre in Mexiko reisen und schreiben.

Das klingt beschaulich. Und doch ist Schreiben für ihn, wie das Sprechen für seine verzweifelten Figuren, eine Folge gestörter Kommunikation – und als einseitige Äußerung auch wieder nur ein weiterer gescheiterter Kommunikationsversuch. „Schreibend drücke ich aus, was ich zwischenmenschlich nicht vermitteln kann“, sagt Till von Heiseler. „Ich schreibe, weil ich in die Enge getrieben bin. Aus Notwehr.“ Miriam Hoffmeyer

Performance „Die Stimme einer Frau“: 7., 8. und 14.10., 22 Uhr, Aktionsgalerie, Große Präsidentenstraße 10, Mitte