■ O.-J.-Simpson-Prozeß: Aus Angst vor Rassenunruhen war die Geschlechterfrage wieder einmal zweitrangig
: „Jetzt können alle Männer ihre Frauen schlagen“

Das Simpson-Urteil war keine Überraschung. Trotzdem ist es schockierend. Denn es konfrontiert uns brutal mit den Konsequenzen von amerikanischem Rassismus, von Frauenfeindlichkeit und Habsucht.

Wie das Kaninchen auf die Schlange starrten alle auf ein eventuelles „Schuldig“ für Simpson. Wie eingeschüchtert und ängstlich sich für diesen Fall alle auf afro- amerikanische Riots eingestellt haben! Aber niemand hatte Angst davor, daß amerikanische Frauen die Straßen übernehmen würden, falls er freigesprochen würde, und tatsächlich, das haben sie nicht getan. Schade eigentlich, denn die schlimmsten Auswirkungen dieses Freispruchs werden die Frauen tragen, und zwar sowohl schwarze als auch weiße Frauen.

Dieser Fall und diese Gerichtsverhandlung hätten das amerikanische Bewußtsein schärfen können – die Diskussion über häusliche Gewalt hätte auf die Tagesordnung gesetzt werden sollen. Statt dessen ging dieser zentrale Punkt bei der ebenso schäbigen wie opportunistischen Berichterstattung der Medien unter. Schon in einem früheren Prozess hatte eine New Yorker Wochenzeitung mit demokratischem Anspruch etwa verfügt, daß neben die (weiße) Journalistin, die über den Simpson- Prozess berichtete, ein (schwarzer) Journalist trat. Vorauseilender Gehorsam gegenüber der Verschiebung der Gewichte. Das Thema häusliche Gewalt wurde durch die Rassendiskussion überdeckt und noch übertroffen von der ganzen Schrecklichkeit der Zustände auf der Polizeistation in Los Angeles.

Natürlich gehe ich davon aus, daß Simpson die beiden Morde begangen hat – er war von Anfang an der logische Verdächtige. Er hatte eine lange Geschichte von Gewalt gegenüber seiner Frau vorzuweisen. (Die Hälfte aller Morde an Frauen in den USA werden von ihren Ehemännern und Freunden begangen; jeden Tag werden zehn Frauen von ihren schlagenden Partnern umgebracht; die Gefahr von Tod oder lebensgefährlichen Verletzungen steigt enorm, wenn eine Frau ihren Mann verläßt. Denn es ist der sehnlichste Wunsch des schlagenden Mannes, sie zu kontrollieren). Die gerichtsmedizinischen Untersuchungen deuteten auf Simpson hin und niemand sonst stand unter Verdacht.

Doch das amerikanische Recht verlangt, daß die Geschworenen „über jeden angemessenen Zweifel“ hinweg überzeugt sein müssen, daß der Angeklagte schuldig ist. Das machte es so leicht, Geld, Rasse und Geschlecht für die Rettung Simpsons einzusetzen.

Wenn Simpson arm wäre, wäre er dann freigesprochen worden? Wohl kaum. Seine Verteidigung hat ungefähr 10 Millionen Dollar gekostet (so steht es in der New York Times). Er setzte eine ganze Armee von RechtsanwältInnen ein, er ließ die qualifiziertesten technischen und wissenschaftlichen ExpertInnen in den Zeugenstand treten, um jeden möglichen Zweifel an den Labortests aufzuwerfen, um jedes Fitzelchen an Information über die ZeugInnen der Anklage auszugraben, um Verwirrung zu stiften und Erschöpfung zu erzeugen.

Und, um schließlich die Tonbänder zu finden, die bewiesen, daß Polizeidedektiv Mark Fuhrman ein Lügner und ein besonders grobschlächtiger Rassist ist. Fuhrmans Unredlichkeit warf natürlich angemessene Zweifel bei der Jury auf. Sein Rassismus und der Rassismus in seiner Polizeistation machten diese Zweifel mehr als angemessen: Sie wurden leidenschaftlich. Ein neues Gutachten zeigt, daß 66 Prozent alles Afro- AmerikanerInnen und 37 Prozent aller Weißen davon überzeugt sind, daß das amerikanische Justizsystem rassistisch ist und ihm deshalb nicht vertraut werden kann. Fuhrman war der lebendige Beweis dafür, daß sie Recht hatten. Mark Fuhrman stand für jeden weißen Cop, der jemals in Prozessen gegen Afro-Amerikaner Beweise fälschte, Verdächtige zusammenschlug, sie mit rassistischem Unflat überhäufte. Seine Entlarvung war die Revanche, nach der Millionen dürsteten.

Aber dieser Rassismus-Diskurs war gleichzeitig wahr und täuschend. Er verdrehte den Mord eines Mannes an seiner Frau, die er mißhandelt hatte, zu etwas ganz anderem. Er zog die Aufmerksamkeit vom Thema „sexuelle Gewalt“ ab. Wenn Nicole Simpson schwarz gewesen wäre, dann hätten die Medien den Prozeß viel weniger interessant gefunden, aber das Ergebnis wäre vermutlich das gleiche gewesen.

Wenn Nicole Simpson aber O. J. emordet hätte – oder wenn seine erste Frau, die schwarz ist, ihn getötet hätte – und wenn sie ganz genau die gleichen Spuren hinterlassen hätte, dann wäre sie verurteilt worden. Egal wie unfähig und unflätig die Polizei sich gezeigt hätte. Das Leben von Männern zählt mehr als das von Frauen, und die Kämpfe zwischen den Geschlechtern werden hinter Rassenfragen versteckt – genauso wie sie zu anderen Zeiten und an anderen Orten hinter Fragen der Nation, der Klasse und der Religion zurücktreten mußten.

Nicht O. J. Simpson ist die eigentliche Bedrohung, sondern sein Freispruch. Mit dem Freispruch geht das letzte bißchen Glauben in ein bloßgestelltes, gemeines und korruptes Justizsystem verloren. Die eine Seite denunziert PolizistInnen und KlägerInnen, die andere Seite RechtsanwältInnen und Geschworene. Während Simpson und alle, die ihn umgeben, mit trashigen Büchern und Fernsehsendungen sehr reich werden, sinken die Hoffnung und das Vergnügen der AmerikanerInnen an ihrer Kultur immer tiefer – ins Bodenlose.

In ein paar Wochen wird der „Marsch der Schwarzen Männer“ nach Washington stattfinden. Anführer des Marsches wird der Antisemit Louis Farrakhan sein. Aus seinen militärischen Einheiten wurden die Bodyguards für Simpsons Anwalt Johnnie Coltran zusammengestellt. O. J. Simpson ist als einer der Sprecher dieser Demonstration angekündigt. Ein Sprecher, der sich in gar keiner Weise für die Verteidigung der Afro-Amerikaner eingesetzt hat, den eine verzweifelt nach Helden süchtige schwarze Community inthronisiert hat. So wie sie vorher – aus der gleichen Verzweiflung heraus – Marrion Barry, den Druguser, oder Mike Tyson, den verurteilten Vergewaltiger, in ihren Himmel erhob. Schwarze Frauen können von diesem Marsch keine Unterstützung erwarten.

Was wir alle erwarten können, ist ein weißer Backlash. Und wer einen wirklichen Aufschwung verzeichnen kann, sind die Sorte Männer, die „arische“ Milizen bilden.

Und wie ein Bewohner von Harlem der New York Times am Tag nach dem Urteil sagte: „Jetzt können alle Männer ihre Frauen schlagen.“

Erika Munk