Auf den Figuren herumgeturnt

War angebliche Schändung eines Holocaustdenkmals am Anhalter Bahnhof das Werk von Kindern? Kunstamt Kreuzberg mit Kunst-Installation unzufrieden  ■ Von Plutonia Plarre

Für den Busfahrer der Linie 129 an der Endstation Anhalter Bahnhof ist der Fall sonnenklar: „Da gibt es keinen politischen Hintergrund, das waren Kinder oder Jugendliche aus Langeweile oder Zerstörungswut.“ Die Rede ist von 16 überlebensgroßen Gipsfiguren einer Installation zum Holocaust, die der englische Künstler Stuart N. R. Wolfe seit letztem Wochenende auf dem Askanischen Platz ausstellt. In der Nacht zum Mittwoch wurden fünf der Figuren schwer beschädigt. Die Polizei ermittelt gegen Unbekannt. Springers Morgenpost titelte gestern bereits: „Holocaust-Mahnmal am Anhalter Bahnhof geschändet.“ Doch für rechtsextreme und antisemitische Tatmotive gibt es bislang keinerlei Anhaltspunkte. Im Gegenteil. Beim Geschäftsführer des Kunstamts Kreuzberg, Stephane Bauer, hat sich eine Anwohnerin gemeldet, die Kinder solange auf einer der Figuren herumturnen sah, bis der Kopf herunterfiel.

Die Skulpturen stellen ausgemergelte Menschen dar, die mit hängendem Kopf aus allen Richtungen auf den Anhalter Bahnhof zueilen. Die Farbe der Winkel an ihrer Brust kennzeichnet sie als verfolgte Juden, Roma und Sinti, Homosexuelle, „Asoziale“, Berufsverbrecher, Kommunisten, Emigranten und Bibelforscher. Der Künstler Wolfe will so daran erinnern, daß vom Anhalter Bahnhof zwischen 1942 und 1945 fast wöchentlich Tausende alter Menschen ins KZ Theresienstadt und politische Häftlinge nach Buchenwald deportiert wurden.

Den meisten Passanten scheint der tiefere Sinn der Installation allerdings verborgen zu bleiben, wie eine kleine Umfrage der taz gestern vor Ort zeigte. Die wenigen, die die Figuren überhaupt wahrgenommen hatten, reagierten mit Achselzucken. „Da hat sich bestimmt einer was bei gedacht“, meinte ein mit seinem Sohn aus der U-Bahn kommender Vater. Ein Anwohner mit einem ausladenen Mollengrab unter dem Herzen und Pinscher an der Leine antwortete nach einem Blick auf die Figuren unwirsch: „Da seh ick keenen Sinn drin.“ Den Hinweis auf die kleine Informationstafel unter dem Torbogen der Ruine kommentierte er mit den Worten: „Ick kann doch nicht irgendwo hinlaufen, um mir 'ne Tafel anzukieken, dat muß man doch direkt an die Dinger ranschreiben.“ Ein Jugendlicher in schwarzer Ledermontur mit nach hinten gebürsteten, gelglänzenden blonden langen Haaren schreckte an der Bushaltestelle aus seinem Tagträumen auf. „Keine Ahnung, ich bin Kulturbanause.“ Lediglich eine Krankenschwester hatte sich über die Figuren schon Gedanken gemacht. „Die sehen so erbärmlich aus, wahrscheinlich hat das was mit der Nazizeit zu tun.“

Auch der Geschäftsführer des Kreuzberger Kunstamts, Bauer, hat Schwierigkeiten mit der Installation, wenn auch aus anderen Gründen. Er hält es für fraglich, auf die Vertreibung von Juden aufmerksam zu machen, indem man ausgemergelte Menschen zeigt. „Die Menschen waren damals gesund und wohlgenährt, als sie Opfer der Verfolgung wurden.“ Die ganze Dimension dieses Verbrechen käme in Wolfes Werk nicht zum Ausdruck. Laut Bauer wird die Kritik auch von der Geschichtsinitiative, der Geschichtswerkstatt, dem Aktiven Museum und der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) geteilt.