Potsdamer Platz: Mythos des Machbaren

Teil 1 der Serie „Orte im Wandel – Visionen für Berlin“: Die Baustelle im Herzen Berlins symbolisiert das Schicksal der Metropole, immer zu werden, doch niemals zu sein. Ein Blick hinter die perfekte Technik  ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann

Architektur in Berlin – die Annäherung beginnt hier, an einem Ort, der keiner ist, doch wieder werden soll, was er war. Architektur ist kaum zu sehen: ein Wald von Kränen, ein Gewirr von Rohrleitungen, eher ein Monument des Wandels, der die ganze Stadt erfaßt hat. Es ist nicht allein die Größe, die Weltkonzerne, Schulklassen, Feuilletonisten und Fachleute gleichermaßen fasziniert. Nein, es ist der Mythos der vergangenen Metropole, des „verkehrsreichsten Platzes Europas“.

Die Unschärfe solcher Bilder und ihre vollständige Abwesenheit in der Gegenwart verschweigen die Geschichte des Ortes. Diese begann in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als auf königliche Anweisung dem Wildwuchs mit dem geordnetem Raster der Friedrichstadt Einhalt geboten wurde. Eine Zollmauer und später Schinkels Torhäuser bildeten die Grenze zwischen Stadt und Land. Davor entstand eine Kette von geometrischen Empfangsplätzen. Draußen wurden die Überlandstraßen auf einer Kreuzung zusammengeführt. Auf den Stadtplänen erschien sie als „Platz vor dem Potsdamer Tor“.

Der Aufstieg begann hundert Jahre später mit der Eröffnung der ersten preußischen Eisenbahn zwischen Berlin und Potsdam. Schon bald zwang der Kopfbahnhof täglich Zehntausende, auf ihrem Weg in die Stadt hier auszusteigen. 40 Straßenbahnlinien trafen sich hier. Unter dem Einfluß des Verkehrs wurde aus dem Platz ein quirlig lärmendes Spektakel, ein „Höllenschlund“. In den zwanziger Jahren sah Stadtbaurat Martin Wagner im Potsdamer Platz „einen Haltepunkt für die Konsumkraft und eine Durchgangsschleuse für den Fließverkehr“. Dieser Ort brauchte keine Form. Sein Zeichen war ein fünfeckiger Verkehrsturm. Seine Vitalität kam allein aus dem Zusammentreffen der Verkehrsströme mit den klangvollen Namen des Amüsements: Haus Vaterland, Café Josty, Fürstenhof.

Nachdem Krieg und Nachkrieg die Bauten nahezu restlos abgeräumt hatten, lebte der Platz weiter als politischer Mythos. Das Ödland zwischen Mauer und der großen, stummen Rückseite der Staatsbibliothek, hilflos „Zentraler Bereich“ genannt, vereinte die ganze tragikomische Geschichte einer Nation. Architektur war nicht vonnöten: ein Parkplatz für die Touristenbusse, ein Aussichtsturm, auf dem sich die Politiker entrüsteten, ein Souvenirstand. Je mehr der Platz an Gestalt einbüßte, desto stärker wurde sein Mythos. Als der Kran hier das erste Element aus dem Schutzwall drängte, war das Höhepunkt und zugleich unwiederbringliches Ende einer Epoche. Dieter Hildebrandts „wunderbare Stadtsteppe“ hatte keine Zukunft.

Wo die letzten Reste der Mauer wie nicht mehr benötigte Theaterkulissen herumstehen, drängt sich jetzt das erste Haus am Platz schräg ins Blickfeld. Eine gewaltige, leuchtend rote Kiste schwebt dramatisch über der Baustelle: die Infobox. Ihre Existenz ist an die Baustelle gebunden. Drinnen präsentieren Investoren und öffentliche Hand ihre Visionen von morgen.

Mit der Teilung verlor der Platz seinen politischen Mythos. Der Fernbahnhof, der ihn einst mit Leben füllte, existiert nicht mehr, der Verkehr wird nun bis zum Lehrter Bahnhof rollen. Die umliegenden Quartiere sind verwaist. Der Potsdamer Platz ist dazu verurteilt, seine Urbanität selbst zu erzeugen. Doch ein eigenes Zentrum ist er aufgrund seiner Lage „zwischen den Mitten“ (dem historischen Zentrum im Osten und der Kudamm-City) nie gewesen.

Als die Stadt vor fünf Jahren von der Einheit überrascht wurde, regierte allenthalben die Unsicherheit über die künftige Rolle Berlins. Rettung versprach der Mythos der wilden Zwanziger, als die Stadt einen Augenschlag lang die Metropole war, für die sie sich seitdem nur noch gehalten hatte. Zur städtebaulichen Leitidee kürte man daher einen Entwurf, der im Gewand der „europäischen Stadt“ daherkam. Man wählte das vertraute Bild – in einer völlig veränderten Situation. Doch niemand wird beim Anblick der fußballfeldgroßen, dreißig Meter tiefen Baugruben das dort Emporwachsende mit einem traditionellen Berliner Quartier verwechseln. Statt der Vielfalt der Parzellenbebauung werden hier enorm vergrößerte Solitäre jeweils den ganzen Block besetzen. Die Chiffre der „europäischen Stadt“ sichert lediglich die Akzeptanz und erweist sich als überaus anpassungsfähig an die Begehrlichkeiten der Investoren. Von diesen hatte sich der Berliner Senat mit dem vorzeitigen Verkauf des Areals abhängig gemacht. Anders als im 19. Jahrhundert, wo die enorme Expansion Berlins von zumeist mittelständischen Unternehmern getragen wurde, schienen jetzt nur noch Großkonzerne in der Lage, die riesigen Leerflächen, die sich nach dem Mauerfall überall im Herzen der Stadt auftaten und Ost und West auf Distanz hielten, zu füllen. Der Staat hatte weder eine Leitvorstellung noch Finanzmittel oder Instrumente, um eine Fläche so groß wie die Krefelder Innenstadt zu entwickeln.

Mit dem Verkauf an eine handvoll Investoren privatisierte der Staat eine seiner vornehmsten Aufgaben: den Städtebau. Die Stadt überläßt ihr Terrain dem Developer, und der errichtet dort seine privat betriebene Stadt – quasi als Dienstleistung. Die öffentliche Hand stellt nur noch die Infrastruktur: Verkehrswege, Schulen, Grünanlagen – doch auch dafür wird sie bald auf Privatkapital angewiesen sein. Sie ist gewissermaßen ein Zulieferer, der – wie mit dem Tunnelanschluß für Daimler-Benz und Sony – dem Investor die Konsumenten zuführt.

In dieser Rolle findet sich die Stadt ebenfalls wieder, wenn es gilt, all die Büroflächen zu füllen. Auch am Potsdamer Platz sollen auf mehr als der Hälfte der Fläche Büros Rendite erwirtschaften. Trotz einer Million derzeit leerstehender Quadratmeter spricht Senator Hassemer nicht von Überhang, sondern vom Defizit der Politik, neue Nutzerpotentiale zu erschließen.

Der Einfluß der Stadt auf das, was die Investoren bauen, ist gering. Mit dem Grundstück hatte man gleichsam seine Verhandlungsgrundlage verkauft. Nur in mühevoller Kleinarbeit konnten die Investoren bewogen werden, den vorgeschriebenen 20prozentigen Wohnanteil nicht allein durch hochkommerzielle Boardinghouses und ein Altenwohnstift, sondern durch vollwertige Miet- und Eigentumswohnungen zu erfüllen.

Daß Investoren aus kommerziellen Motiven handeln, kann niemanden überraschen. Das Paradebeispiel sind die Mall von Debis und die Sony-Plaza. Weil das traditionelle Muster aus Straßen und Blöcken, aus privatem und öffentlichem Raum nicht genug „Schnittflächen“ zwischen Handel und Passanten bietet, werden diese einfach in den Block hinein erweitert. In der Infobox geben die Computersimulationen, Gameshows und Video-Animationen einen Vorgeschmack auf die Entertainmentwelten, die uns im Debis-„3D-Big- Screen“ oder dem Sony-„Imax“- Filmtheater erwarten. Hier reduziert sich Architektur zur Geschmacksfrage. Die virtuellen Welten der Sony-Black-box könnten auf Stadtumfeld verzichten.

Ein Diskussionsforum für solche Kritik wird die Infobox kaum werden. Jede Kritik macht sich verdächtig, das Vorhaben als ganzes in Frage zu stellen, sich als „Verhinderer“ dem Unvermeidlichen entgegenzustellen. Das „Projekt Stadt“ ist zu komplex, als daß sich darüber im vorgegebenen Zeitrahmen noch ein demokratischer Konsens erzielen ließe. Kein großer Wurf, keine die Stadt als Ganzes formende Vision, erweist sich mehrheitsfähig oder praktikabel. Zu leicht verfängt man sich im Dickicht der Problemlagen von Ökonomie, Verkehr, Architektur, Denkmalschutz, Umweltschutz et cetera. Ausschließlich die Realisation zählt. Der Architekt ist nur noch eine Schaltstelle im Planungsprozess. Die wahre Radikalität des Entwurfs für den Potsdamer Platz besteht in seinem unbedingten Willen zum Machbaren.

Projektmanagement ersetzt Stadtplanung. Es gilt Herstellungsbedingungen zu optimieren. Auf Kritik wird nur noch eingegangen, wenn sie „technisch beherrschbar“ bleibt. Die Umsetzung zweier Säle aus dem ehemaligen Hotel Esplanade ist ingenieurtechnisch ein Husarenstück, doch niemand wird angesichts von Kosten und Ergebnis von einem Triumph des Denkmalschutzes oder des Bauherren reden.

So entsteht ein Mythos der Machbarkeit, der Glaube an eine technische „Lösung“ für jedes Problem. Ob Grundwassermanagement, Schildvortrieb oder Kraft- Wärme-Kopplung – in der Infobox feiert gerade die öffentliche Hand den Stadtumbau als technische Meisterleistung. Der Verdacht kommt auf, daß hier allenfalls Nebenaspekte präsentiert werden.

Derweil produziert die Baustelle immer neue Sensationen: Ganze Seen entstehen für kurze Zeit und verschwinden wieder. Ein Logistikzentrum steuert Ver- und Entsorgung auf Minuten und Kilogramm genau. Materialmengen unvorstellbaren Ausmaßes werden zu Bürofläche.

Die Architektur ist uninteressant. Der Herstellungsprozeß ist spannender als das Endprodukt. Freitags, wenn alle Maschinen herausgeputzt sind, kommen die Fernsehteams. Scharen von Baustellentouristen zieht es zur Baufabrik. Die Infobox vermarktet die „größte Baustelle Europas“ mit High-Tech, vorher waren es die Modellbauorgien im Bauhausarchiv, das Panoramablau der Rotunden oder das Entertainment des „Baustellensommers“. Baustellenmarketing sichert Akzeptanz und Marktchancen. Ein Mythos wird produziert. Der Potsdamer Platz – ein Markenartikel.

In der Tat scheint der Potsdamer Platz derzeit seinem einstigen Image am nächsten. Materialströme füllen den Mythos vom verkehrsreichsten Platz Europas. Fast ein marginaler Unterschied – die Faszination, unüberschaubar, flüchtig und groß, ist dieselbe. Die Baustelle – formlos, reine Technik – wird zur Ikone. Die Infobox der jungen Frankfurter Architekten Till Schneider und Michael Schumacher ist ein Beispiel dafür. Sie fügen die Elemente der Baufabrik – Stahlgitter, Rohrgestänge, Signalfarben – zu Architektur von rohem Charme. Die Ästhetik des Unfertigen hat längst stadtbildprägende Qualität.

Doch irgendwann, wenn alle Leerstellen zwischen Ex-Ost und Ex-West mit Baumasse aufgefüllt und die bestechend schönen Pläne Stein geworden sein werden, wenn das im Schutt gefundene Geschirr des ehemaligen Café Josty das Museum von Daimler-Benz ziert, wird man sehen, daß „Stadt“ nur bedingt planbar ist, daß es keine fertigen Zustände gibt. Schon Karl Scheffler charakterisierte Berlins Schicksal damit, immer zu werden, doch nie zu sein.

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