Schneisen durchs Hyperkomplexe

■ „Seitenwechsel“ – eine Literaturwoche im Haus der Kulturen der Welt

Jewgeni Popov und Phyllis Burke lasen am Mittwoch. Burke, Lehrerin für Creative Writing, collagierte, was zusammengehört: das Amerika der vergangenen vierzig Jahre als Familiensaga. Im Mittelpunkt Marilyn, ein Gör aus Boston. Den Eltern hat es ob der Unverdaulichkeit des Doppelwhoppers JFK/Monroe die Sprache verschlagen: „Joe und Kate waren trunken vor Geschichte.“ Amerikanische Posthistoire also, flott geschrieben, uninteressant, aber die Leute lesen so was. Frank Heibert, der Übersetzer, hat daraus mit viel Lust und kühnen Streichungen ein Potpourri komponiert – Grundlage für einen vergnüglichen Abend, an dem sich qua Literatur scharfe Gesellschaftsdiagnose und Grundfragen menschlicher Existenz aufs schönste vermitteln. Für Bernd Scherer, Leiter des Bereichs Literatur, Gesellschaft, Wissenschaft im Haus der Kulturen der Welt, und seine Mitarbeiterin Beate Endriss ist das die Folie für ihr Programm. Auf dem durchscheinenden Grund der amerikanischen Literatur schreibe sich ein, was den „Seitenwechsel“ markiert: die Transformationsprozesse und ihre Kumulation in der Jahreszahl „1989“ – notiert durch die „literarischen Gegenwelten“ in China, Rußland und im deutschsprachigen Raum. Die Veranstalter erwarten also viel von der Literatur: „Natürlich kann bei diesem Thema 1989 leicht der Eindruck entstehen, daß wir Literatur als eine realistische Beschreibung verstehen. Dabei werden doch umgekehrt die Prozesse, die momentan ablaufen, gar nicht verstanden. Wir sehen Literatur so, daß sie Welten entwirft, die ein Verständnis für Situationen überhaupt erst erzeugen können.“ Der Glaube an Literatur ist magisch: Dichtung sei Seismographie von Erschütterungen im Akt ihrer Entstehung. Ungeklärt bleibt, wer hier zuerst verrückt spielt, Apparat oder Patient. Im Haus der Kulturen der Welt hat man dazu seit Dienstag eine Versuchsreihe aufgebaut. An sechs Abenden schlägt man mit Lesungen Schneisen in den Dschungel des Hyperkomplexen: Wahrnehmen des Weiblichen bei Che Ran und Jurek Becker; satirische Mimesis kultureller Hegemonie durch Phyllis Burke und Jewgeni Popov; Vergangenheit als zynische Allegorese der Gegenwart bei Ma Jian und Oleg Jurjew; umgekehrt Gesten eines aufgeschobenen Abschieds in der gestrigen Lesung von Irene Dische und in Tony Kushners Stück „Slawen“; heute abend um 20 Uhr Wang Wen-Hsing und Robert Menasse mit ihren Bildern von der Wende als einer Provinzposse; und zum Abschluß morgen, ebenfalls um 20 Uhr, eine Performance mit Lew Rubinstein und Michael Warr. Davor treffen um 11 Uhr alle nochmal bei freiem Publikumsverkehr aufeinander. Das kann ein ziemliches Durcheinander geben. Eberhardt Lämmert, Wolf Dieter Narr und Konrad Liessmann werden wohl mit Statements zur Wende-Literatur den Ton angeben, und niemand sollte sich an diesem Sonntagmorgen auf den Weg ins HKW machen, der erwartet, hier den „größeren Bogen“ zum Welturereignis „1989“ geschlagen zu bekommen. Mit diesem Anspruch an ihr „Symposion“ verwechseln die Veranstalter zuletzt vielleicht doch literarische und politische Urteilskraft. Jewgeni Popov zumindest blinzelte vergangenen Mittwoch erstaunt mit den Stecknadelaugen, als ihm seine kalifornische Kollegin auf dem Podium einen Vortrag über literarische Pflichten im unterhaltungsindustriellen Zeitalter hielt. „Ich freue mich, wenn ich Leser habe“, sagte er. „Wenn ich keine Leser habe, werde ich mich auch freuen. Vielleicht ein bißchen weniger.“ Fritz v. Klinggräff