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■ Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen feiert sein 100jähriges Bestehen

Am 7. Oktober 1895 trafen sich in München die Repräsentanten von 41 Unternehmen des Öffentlichen Personenverkehrs – ein Begriff, den seinerzeit noch niemand kannte – und gründeten den „Verein Deutscher Straßenbahn- und Kleinbahnverwaltungen“. Die Nachfolger dieses Vereins firmierten in BRD und DDR unter dem Namen „Verband öffentlicher Verkehrsbetriebe“ (VÖV). Am 6. November 1990 schlossen sich die beiden VÖV mit dem Bundesverband Deutscher Eisenbahnen, Kraftverkehre und Seilbahnen zum Verband Deutscher Verkehrsbetriebe zusammen. Auf seiner diesjährigen Jahrestagung – logischerweise in München – kann der VDV also seinen 100. Geburtstag feiern. Traditionspflege dürfte dabei allerdings kaum eine Rolle spielen. Vielmehr geht es um die Anforderungen der Moderne.

Im Verband sind heute 542 Unternehmen zusammengeschlossen, darunter 179 Betriebe des Eisenbahngüterverkehrs. Auch die Deutsche Bahn AG (DB) zählt mit dem Bereich Schienennahverkehr zu den Mitgliedern. Damit vertritt der VDV rund 90 Prozent des deutschen öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) – in absoluten Zahlen: täglich 24 Millionen Fahrgäste, 8,8 Milliarden im Jahr. Mit derart beeindruckenden Daten im Rücken, so sollte man meinen, läßt sich ordentlich Dampf machen.

Statt dessen ist die Arbeit des Verbands ein eher mühseliges Geschäft. „Im Moment“, so Rüdiger vorm Walde, Vorstandsvorsitzender der Berliner Verkehrsgesellschaft, „haben wir eine sehr schwierige Phase.“ Auch der ÖPNV müsse sich an neue EU- Richtlinien halten, und hinzu komme die Regionalisierung des Schienennahverkehrs der Deutschen Bahnen, für den ab 1996 nicht mehr der Bund, sondern die Länder verantwortlich zeichnen, die wiederum ihre Zuständigkeit an die Kommunen abgeben können. Dabei ist der VDV gefragt, dessen erklärtes Ziel die „Erarbeitung einheitlicher technischer, betrieblicher, rechtlicher und wirtschaftlicher Grundsätze“ ist, damit jedes einzelne Mitgliedsunternehmen dem großen Ganzen optimal dienen kann: der Attraktivität des ÖPNV. Da allerdings die Mitglieder oftmals auch miteinander konkurrieren – im VDV sind sowohl private als auch öffentliche Unternehmen organisiert – und außerdem mit ganz unterschiedlichen Bedingungen in ihren Einzugsgebieten zu tun haben, dürfte die Konsensfindung nicht immer leicht sein.

Doch nicht nur die Abstimmung der Interessen untereinander, sondern auch deren Vertretung nach außen gehört zu den Aufgaben des Verbandes. An die Öffentlichkeit richten sich VDV und DB mit einer Werbekampagne. Das Motto in diesem Jahr: „Auf der Spur der Vernunft.“ Diese Spurensuche gestaltet sich bei Otto und Ottilie Normalverbraucher nach Meinung von VDV-Sprecher Friedhelm Bihn mitunter leichter als bei den Entscheidungsträgern in Politik und Verwaltung: Die nämlich, so Bihn, „rekrutieren sich zu 90 Prozent aus der Gruppe der sogenannten Männer im besten Alter“ – ein Personenkreis, der praktisch durchgängig auto-motorisiert und die alltäglichen Probleme des ÖPNV nur vom Hörensagen kennt.

Also sucht man nach Verbündeten: Fahrgastinitiativen, lange Zeit von den meisten Verkehrsgesellschaften als eine Art Einmischung in innere Angelegenheiten betrachtet, werden vom VDV heutzutage ausdrücklich unterstützt. Umfangreiches Dokumentationsmaterial zu allen Fragen des ÖPNV soll die Befürworter von Bus und Bahn mit Argumentationshilfen versorgen – aber auch für Verständnis werben, wenn im Alltag nicht alles so funktioniert, wie es wünschenswert wäre. „Wir würden ja gern, wenn wir nur könnten“ ist ein ungeschriebenes Motto des VDV. Wenn zum Beispiel die Busunternehmen von der Mineralölsteuer befreit würden, ließen sich jährlich 355 Millionen Mark zusätzlich in die Nahverkehrsnetze investieren. Wenn die steuerlich absetzbare Kilometerpauschale für Pkw-Nutzer nicht ständig erhöht würde, könnten viel mehr Berufstätige zum Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel bewogen werden. Doch die Umsetzung solcher und anderer Forderungen läßt auf sich warten, und angesichts derart ungünstiger Rahmenbedingungen werden die VDV-Mitglieder Geschlossenheit zeigen müssen. „Im Vordergrund“, so Friedhelm Bihn, „steht der Wettbewerb mit dem Pkw, was im Umkehrschluß heißt, daß der Wettbewerb der Verkehrsgesellschaften untereinander nicht zu einem Qualitätsverlust des Angebotes führen darf.“

Immerhin wächst die Zahl derjenigen, die der „Spur der Vernunft“ folgen. In den alten Bundesländern geht es nach wie vor zwar langsam, aber beständig bergauf, die Fahrgastzahlen stiegen seit 1988 um rund 18 Prozent. In den neuen Ländern, wo es mit der individuellen Motorisierung nach dem Mauerfall zu dramatischen Rückgängen um mehr als 40 Prozent kam, blieb die Kurve im letzten Jahr erstmals wieder stabil. Um diesen Trend zu erhalten, wird der VDV indes wohl auch weiterhin in erster Linie auf die Vernunft der potentiellen Fahrgäste vertrauen müssen. Mit suggestiver Beeinflussung der Massen braucht er es jedenfalls gar nicht erst zu versuchen: 4,3 Millionen Mark stehen dem Verband in diesem Jahr zur Verfügung, um für sein „Produkt“ zu werben. Die Konkurrenz von der Automobilindustrie gibt nach Schätzung von Fachleuten für den gleichen Zweck etwas mehr aus – insgesamt rund 1,2 Milliarden. Jochen Siemer