Sturzflug auf Schienen

Futuristisches im Bahnhof Lille: Die Bahnen schicken ihre Superschnellzüge zum 2. Welt-Hochgeschwindigkeits-Kongreß „Eurailspeed“  ■ Aus Lille Alois Berger

Es hat sich viel getan seit dem ersten Weltkongreß vor drei Jahren. In fast allen Ländern der Europäischen Union sind inzwischen Hochgeschwindigkeitszüge mit 250 Stundenkilometern und mehr unterwegs. Doch die Vielzahl der Modelle, die da auf den Gleisen in der alten Bahnhofshalle herumstehen, demonstrieren ein europäisches Dilemma: Eisenbahnpolitik ist in erster Linie nationale Politik. Der Aufbau eines europäischen Netzes steht vor Schwierigkeiten, die in den letzten Jahren nicht kleiner, sondern größer geworden sind.

Die Regierungen bauen lieber nationale Strecken aus, für grenzüberschreitende Verbindungen fehlt das Geld und meist auch der politische Wille. Die Europäische Union hat zwar vor zwei Jahren beschlossen, neun internationale Zugstrecken als besonders wichtig zu fördern, aber die Finanzminister haben daraufhin sofort den Geldhahn zugedreht. Aus dem Brüsseler Topf dürfen lediglich Machbarkeitsstudien und Planungszuschüsse bezahlt werden. Wer den Bau finanzieren soll, steht bei allen neun Projekten nach wie vor in den Sternen.

Der Brennertunnel beispielsweise, seit 20 Jahren geplant und nun auch in den Katalog der vorrangigen EU-Projekte aufgenommen, ist durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union noch unwahrscheinlicher geworden. Der Handelsaustausch zwischen Deutschland und Italien ist der größte in der EU, täglich rollen Tausende von Lastwagen durch die geschundenen Alpentäler. Um diesen Verkehr auf die Schiene zu bringen, wäre der Brennertunnel unbedingt nötig.

Seit Österreich Mitglied der EU ist, hat sich der Verkehr noch stärker von der Schiene auf die Straße verlagert, wie Bahnsprecher einräumen. Denn die EU hat Wien gezwungen, die Beschränkungen für den Straßenverkehr zu lockern. Die 23 Milliarden Mark teure Tunnelstrecke kann aber nur rentabel gebaut und betrieben werden, wenn der Verkehr auf der Straße wieder teurer wird. Die Verkehrspolitik der EU verspricht eher das Gegenteil.

Das größte Hindernis für die Finanzierung neuer Bahnstrecken hat die Europäische Union mit der Währungsunion aufgebaut. Um die strengen Vorgaben zu erfüllen, dürfen die Regierungen keine neuen Schulden machen. Vor allem kleinere Länder wie Österreich oder Belgien haben damit keine Möglichkeit, die von der EU geforderten vorrangigen Projekte anzugehen. Belgien, das aufgrund seiner geographischen Lage zwangsläufig eine der Drehscheiben eines europäischen Eisenbahnnetzes sein müßte, hat in dieser Woche einen Sparhaushalt vorgelegt, in dem von neuen Hochgeschwindigkeitsstrecken nicht einmal die Rede ist.

Der nagelneue Eurostar, das Prunkstück der transeuropäischen Eisenbahnen, das Brüssel, Paris und London über den Kanaltunnel verbindet, wird auf belgischem Gebiet noch länger gemächlich auf den alten Schienen dahinrumpeln. Frankreich hat Belgien deshalb schon vorgeworfen, maßgeblich zum finanziellen Desaster des Eurostar beizutragen. Die erhofften Einnahmen reichen bisher nicht einmal, um die Zinsen für die Investitionskredite zu bezahlen. Die private Eurostar-Gesellschaft steht knapp vor der Pleite: Gestern meldete das Unternehmen allein für das erste Halbjahr 1995 einen Verlust von umgerechnet 1,1 Milliarden Mark.

Das hat Auswirkungen auf die anderen Projekte. Die vor einem Jahr noch als Königsweg gepriesene Privatfinanzierung von Hochgeschwindigkeitszügen ist damit fürs erste gestorben. Investoren haben zur Zeit keine Lust auf ein zweites Experiment. Die Verkehrspolitiker im Europaparlament fordern deshalb, daß die Europäische Union überall dort mit Zuschüssen helfen müsse, wo der Bau im gesamteuropäischen Interesse liegt. Doch die Finanzminister haben das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz längst der Währungsunion geopfert.