„Ich werde hier weggezogen“

■ Heinz M. war 30 Jahre seßhaft. Nun packt der letzte Alte im umzäunten Weidedamm-Baugebiet seine Sieben Sachen.

Wie amputiert ragen 15 Meter Karl-Thomer-Allee in die Landschaft. Mitten im planierten Weidedammgebiet liegt das Sträßchen, an dem Heinz M. die letzten 30 Jahre lebte. Und wo er im ramponierten Kaisen-Haus immer noch wohnt. Ein paar Tage vielleicht noch. Denn der Matsch an beiden Enden des Weges kriecht näher an Heinzens Gartenzaun heran.

„Was wollen Sie denn wissen?“ Der Sechzigjährige mit der dicken Brille und den zerzausten grauen Haaren empfängt die „Tussi von der taz“ unwirsch. „Ich habe keine Zeit zum Reden. Ich muß arbeiten, das sehen Sie doch.“ Tatsache: Hier türmen sich Balken einen ordentlichen Meter fünfzig hoch. Dachlatten im Sechserpack krönen die unglaubliche Ordnung mitten im Chaos einer Großbaustelle. Der letzte der Alten am Weidedamm packt.

„Ich ziehe nicht weg. Ich werde weggezogen.“ Heinz M.'s Stimme schnarrt ein bißchen, wenn er das sagt. „Eigentlich bin ich nach 25 Jahren zur Miete unkündbar.“ Der gelernte Tischler nimmt den rostigen Draht und dreht ihn energisch um die nächsten sechs Dachlatten. Wenn er hochschaut, dann auf seinen Garten. Peter neben ihm entnagelt. Die beiden lernten sich als Kneipenwirt und Gast kennen. Nun sind sie Freunde.

Ein Geländewagen kommt angebrummt. Frank Gaida, der Chef des Sicherheitsdienstes im „Käfig“, im umzäunten Gelände zwischen Hemmstraße und Torfkanal, parkt. „Fränki macht den Umzug“, schwärmt Heinz – vom Wachmann, nicht vom Umzug. „Der ist der Beste, schreiben Sie das.“ Gaida zieht einen vollgeladenen Hänger aus dem Matsch. Darauf Platten, Farben, Baumaterialien. „Paß auf, das ist alles was ich habe.“ Heinz wird empfindlich. Eine Plane müsse noch besorgt werden, findet Gaida. „Es könnte Regen geben.“

Langsam zeichnet sich die Nacht zum Samstag ab. Heute wird es keine Fuhre mehr rüber zu Heinzens neuem Grundstück geben. Das liegt jenseits der Bahnlinie. „Da ist nichts als Unkraut und ein bißchen mehr Gift, weil die Parzelle dichter an der Müllverbrennungsanlage liegt“, sagt Heinz. Vielleicht baut er sich dort ein Häuschen mit Grasdach, wohnen darf er dort nicht mehr. Dafür muß er in ein Mietshaus an der Regensburger Straße.

„Komm, wir machen noch ne Fuhre“, schlägt Heinz vor. „Ach was, ist doch Vollmond“, witzelt Gaida. „Ich bin doch für die Sicherheit.“ Heinz versteht die Anspielung und lacht gutmütig zurück. „Ich kann ja immer saufen.“ Es wird duster, Heinz hat eiskalte Fingerspitzen. Aber innen, unterm dünnen Jäckchen und dem karierten Flanellhemd, sei er warm, versichert er. Das sei schon immer so gewesen. Als er mit zehn aus Breslau kam und mit 15 beim Tischler in Bassum lernte. Fünf Jahre später zog er nach Findorff. Kurz darauf an den Weidedamm.

„Schauen Sie. Der Boskop hier, der ist so alt wie ich.“ Zwei alte Stämme mit viel dicker Borke winden sich in Heinz' Garten umeinander. „Den werden sie umhauen wie alles. Wenn ich weg bin, nimmt hier niemand mehr Rücksicht. Die hauen doch sogar Bäume mit Amselnestern drin um. Habe ich doch selbst gesehen.“ Da klingt Heinz bitter. Aber das Edel-Hell dämpft den Klang und es verwischt ein wenig die Geschichte vom „Schwarzen Schaf“ wie Heinz sich selber nennt.

„Die Leute hier waren doch eine zusammengeschweißte Gemeinschaft. Wie im Dorf“, sagt er. Er habe sich mehr wie ein Knöterich „reingewurschtelt“. Am Ende kam er mit Einzelnen ganz gut klar – sofern sie keine Otto-Normalverbraucher waren. Die kann er nicht leiden. „Die sind fad.“ Nicht so der Pfundskerl von Nachbar, mit dem er sein halbes Leben Tür an Tür am Weidedamm wohnte. Vor fünf Jahren starb der an Krebs. Sein Haus trägt Heinz nun ab. Oder besser: Die Ruine. Viel steht nicht mehr. Die Insel bröckelt.

Als vor ein paar Jahren schon der Exodus der „Ureinwohner“ einsetzte, begann für Heinz die schwerste Zeit am Weidedamm. Bauwagenleute zogen zu. „Puh, das stank manchmal ganz schön nach Scheiße“, erzählt er, „und dann die vielen Hunde. Vier von allen Seiten. Da nimmmt man keinen Knüppel, wenn man noch zwanzig Minuten im Matsch nach Hause waten muß.“ So war das fast seit Baubeginn. Es gab keinen Strom, kein Wasser, sogar der Briefträger blieb weg. Heinz mußte selber zum Postamt an der Domsheide radeln. „Sowas kannst Du Dir nicht vorstellen.“

Unterm Birnbaum wirft der Vollmond Schatten. „Ich heiße Heinz, wir können auch Du sagen.“ Jetzt wo es im Feuchtgebiet kühl wird, taut Heinz auf und erzählt „den ersten Nachrichtenwitz“: „Kommen zwei Flöhe aus'm Kino. Sagt der eine zum andern: Gehn wir zu Fuß oder nehmen wir'n Hund?“ 8.000 Witze habe er auf Lager, lacht Heinz stolz. „Eigentlich bin ich ein heiterer Mensch.“ So einer, der Morgenstern liebt und Heine. Manchmal habe er sich mit einem Buch ins Bett gelegt. „Mit Tee dabei und allem drum und dran. Und nur gelesen.“

Seit 30 Jahren wohnt Heinz M. am Weidedamm. Auf Reisen war er nie. „Nur meine Gedanken sind in die Welt gezogen“. Komisch sei das eigentlich. Aber nichts habe ihn von hier weggelockt. „Ich bin seßhaft“, sagt er. „Es ist doch schön hier“. Eva Rhode