Lug, Trug, Willkür und Barbarei

Im Prozeß gegen die junge Dichterin Alina Wituchnowskaja tragen die russischen Geheimdienste ihren Machtkampf mit den Intellektuellen aus. Verhaftungsvorwand: Drogenhandel  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Wenn es einen Prozeß gibt, der die Moskauer Intellektuellen zur Weißglut treibt, dann ist es dieser. Alle Beobachter sind sich einig, daß hier der russische Geheimdienst ein Exempel gegen Unbequeme inszeniert, mit Lug und Trug einen Fall konstruiert, genauso bösartig raffiniert wie in den schrecklichen Zeiten der Dissisdenten-Verfolgung vor zwanzig Jahren. Ausgetragen wird er auf dem Rücken der 22jährigen Dichterin Alina Wituchnowskaja, die seit fast genau einem Jahr in dem berüchtigten Gefängnis Butyrka sitzt.

Heute beginnt vor dem Volksgericht im Golowinski-Bezirk eine neue Verhandlungsrunde, aber zum erstenmal machen sich die Verteidiger und Verwandten der jungen Frau Hoffnung auf einen Etappensieg. Vielleicht geschieht ein Wunder, und die wegen Rauschgifthandels angeklagte Lyrikerin wird aus der Untersuchungshaft entlassen, natürlich mit Auflagen, denn dieser aberwitzige Prozeß geht weiter.

Zur Erinnerung: Die Jung-Poetin wurde am 16. November 1994 verhaftet, wegen angeblichen Handels mit synthetischen Drogen in einer U-Bahnstation im Werte von umgerechnet etwa 30 Mark. (siehe taz vom 14. Juni). Kurz vor ihrer Festnahme hatten ihre beiden Gedichtbände „Anomalismen“ und „Kinderbuch der Toten“ großes Aufsehen erregt, ebenfalls ihre Artikelserie über den GUS-weiten Synthetik-Drogen-Konsum und LSD-Handel. Zwei dieser Berichte erschienen in der renommierten Zeitschrift Nowoje Wremja. Obwohl es in ganz Moskau von organisierten LSD- Händlern nur so wimmelt, wurde die Dichterin ins Gefängnis gesteckt, in eine Massenzelle mit Mörderinnen und unter den gleichen barbarischen Bedingungen. Alina beteuerte immer vergeblich ihre Unschuld, sie glaubt, daß der russische Geheimdienst ihr die Drogen untergeschoben hat.

Nach einem Dreivierteljahr Untersuchungshaft geschah etwas sehr Besonderes. Der russische PEN-Club nahm die hinter Gittern sitzende Dichterin in ihren Verband auf und beanspruchte ein ihnen verbrieftes Recht aus den Chruschtschow-Zeiten. Die vier Schriftsteller Andrej Bitow, Alexander Tkatschenko, Arkadi Waksberg und die Lyrikerin Janna Moritz zogen als „gesellschaftliche VerteidigerInnen“ Alinas vor Gericht. Und dort erlebten sie eine Überraschung nach der anderen. Vorgeführt wurde ihnen ein Kampf des Staates gegen die Literatur, gegen die Aufklärung überhaupt. Ein Kampf, den die aggressive Staatsanwältin so führt, als ob Stalin noch lebte. Dazu nur eine kleine Episode.

„Waren Sie berufstätig?“ fragte dieser Drachen die schmale und blasse Alina Wituchnowskaja. Sie antwortet: „Ich habe mich mit dem Verfassen von Artikeln und Gedichten beschäftigt.“ Daraufhin dynamisch wie eine Abrißbirne die Staatsanwältin: „Aber das ist doch keine Arbeit!“ Diese Szene erinnerte die Beobachter an eine andere aus den Fugen geratene Zeit. Dreißig Jahre ist es her, daß der Poet Joseph Brodski in Leningrad wegen „Tagedieberei“ zu Lagerhaft verurteilt wurde. Er könne ja gar kein Dichter sein, weil er keinem Berufsverband angehöre, warfen ihm damals die Richter vor. Brodski hatte die Chuzpe zu entgegnen: „Und ich dachte immer, das käme von Gott.“ Während sich damals „die“ Partei und die Dissidenten gegenüberstanden, kristallisiert sich um Alina heute der Streit zwischen demokratisch gesinnten russischen Intellektuellen und den um ihr Machtmonopol kämpfenden Geheimdiensten. Auch dies wurde den Beobachtern und den vier Schriftstelleranwälten im Prozeßverlauf vorgeführt.

Die Verhandlungen begannen nur deshalb, damit sie wieder vertagt werden können. Dazu war jedes Mittel recht. So kündigte man bei der ersten Runde im Sommer nur den planmäßigen (!) Urlaub der zuständigen Richterin Natalja Ariukina an. Das beabsichtigte Ergebnis: Alina Wituchnowskaja wanderte erneut für weitere Wochen in die Zelle von Butyrka, wo die Temperaturen genauso niedrig waren und sind, wie in den berühmten Bleikammern von Venedig. Ihr Vater berichtete der Öffentlichkeit, daß die schlechte Luft, der Schlafmangel, das verdorbene Essen die junge Frau fast umbringen. Wegen Verdachts zur Suizidneigung wurde die von Kindheit an depressive Dichterin zeitweilig dann ins berüchtigte Serbski-Institut für Gerichtspsychiatrie überführt.

Ende August, endlich, begann die Zeugen-Anhörung. Auch sie begann mit einer für den ganzen Prozeßverlauf typischen Episode. So betrat ein bulliger Milizionär den für die Angeklagte reservierten Affenkäfig. Er prüfte die Bank darin und zerschmetterte sie mit einem verächtlichen Fußtritt. Viel entscheidender war aber, daß auch die Anklage zerbröselte, daß immer deutlicher wurde, daß der FSB („Federalnaja Alosochba Besopasnosti“ = Föderaler Sicherheitsdienst, ehemals KGB) bei Alinas Verhaftung ihr Drogen untergeschoben hatte.

Denn in fast allen Punkten widersprechen sich die beiden angeblichen U-Bahn-„Kunden“ von Alina und die Angaben ihrer beiden Mitangeklagten, zwei junge Männern, die beide merkwürdigerweise schon wenige Tage nach ihrer Verhaftung auf freien Fuß gesetzt wurden. Ein Bekannter soll ihnen per Telefon geraten haben, zur gegebenen Zeit auf dem U- Bahnhof zu erscheinen, erzählt sie. Den Namen und die Telefonnummer dieses Mannes können die beiden „Kunden“ allerdings nicht nennen. Nur in zwei Aussagen sind sie sich einig: zum einen darin, daß ihnen die unbekannte Überbringerin des verabredeten Stoffes in keiner Weise geschildert worden war, sie aber beim Anblick Alinas sofort intuitiv begriffen: die muß es sein. Außerdem versichern beide, bei ihrer sofort danach erfolgten Festnahme am angeblichen Tatort durch Personen in Zivil heftig geschlagen worden zu sein. Als man sie Stunden später der angeblichen „Dealerin“ gegenüberstellte – keineswegs einer Reihe von Frauen entsprechenden Alters, wie es der Vorschrift entspräche –, hätten sie sie sofort „wiedererkannt“.

Die Schuld-Feststellung gegenüber der Angeklagten durchzieht die gesamte Verhandlungsführung. Nicht angehört wurden während der Voruntersuchung alle ZeugInnen, die Alina ein Alibi geben könnten. Die gesamte Anklage stützt sich zum Teil auf Abhörprotokolle von Telefongesprächen im Hause Wituchnowski, die der FSB im Verlaufe einer ganzen Woche vor dem Tag der Verhaftungen angefertigt haben will. Diese Bänder sind bis heute verschwunden. Zudem gab es keine Belege für eine richterliche Abhör-Erlaubnis.

Erst als die Anklage in diesem Punkt gegenüber der Verteidigung ins Schleudern kam, zauberte während der zweiten Verhandlungswoche ein Prozeßzuhörer eine Kopie dieser angeblichen Abhör-Erlaubnis aus dem Hut. Der Antrag von Alinas Anwalt, in der Buchführung des zuständigen Stadt-Gerichtes nachprüfen zu dürfen, ob die Kopie auch ein Original hat, wurde ohne Begründung abgelehnt. Dafür stellte sich heraus, wer der Spender des Dokumentes war. Und welche Überraschung, es war ein Herr Woronkow, ein Oberst des FSB, Leiter von dessen Moskauer Drogen-Fahndungs-Abteilung und Organisator der nächtlichen Hausdurchsuchung, in deren Verlauf die junge Frau festgenommen worden war. Dieser Mann darf dann lange reden, aber – wie praktisch – aufgrund seines Berufs nicht als Zeuge behandelt werden. „Daß ich ein Geheimdienstmann bin, steht mir nicht auf der Stirn geschrieben“, versicherte er der „gesellschaftlichen Verteidigerin“ Janna Moritz. Und die kann sich nicht enthalten zu bemerken: „Und ob es da geschrieben steht!“ Alle Fragen der Verteidigung stoßen in der Folge auf eine Wand von „Dienstgeheimnissen“. Immerhin fällt der Satz des Oberst: „Alina hat uns überhaupt nicht interessiert. Alina – das ist für uns nur eine Etappe.“

Unfreiwillig bestätigt er damit den Bericht Wituchnowskajas, der FSB habe nach ihrer Verhaftung versucht, sie zu Aussagen über Informanten für ihre Artikel und über „Söhne und Töchter berühmter Leute“ aus ihrem Freundeskreis zu erpressen. Man habe ihr keine Hoffnung für den Prozeß gemacht, schreibt sie in einem aus der „Butyrka“ geschmuggelten Kassiber. Wörtlich habe man ihr gesagt: „Jeder beliebige Richter, Staatsanwalt, Untersuchungsrichter oder andere Repräsentant dieser Gewalt kann in unserer heutigen Marktwirtschaft nicht von seinem Gehalt leben, das versteht sich von selbst. Deshalb müssen diese Leute nach anderen Mitteln zum Überleben suchen: Schmiergelder ... ein sogenanntes geheimes Dach für interessierte und zahlungskräftige Strukturen – vor allem der kriminellen Welt.“ Die Iswestija schlußfolgerte: „Sie (die russischen Geheimdienste) haben begonnen, sich gerade der kriminellen Welt zu bedienen, um ihre totale Kontrolle über die Gesellschaft zu errichten... Schon das reale Vorhandensein dieser Gefahr gibt uns das Recht, den Prozeß gegen Alina Wituchnowskaja als einen politischen Prozeß zu bezeichnen.“

Wenn heute bei diesem absurden, vor Ungereimtheiten und formalen Mängeln nur so strotzenden Prozeß beschlossen wird, Alina vorläufig aus dem Gefängnis zu entlassen, dann ist dies ein Ergebnis der erfahrenen Berufssolidarität und der öffentlichen Resonanz.

Die Dichterin weiß dies, bleibt deshalb offensiv. Sie habe nie gedealt, prangere aber die Drogen- Paragraphen als staatlichen Übergriff auf die Bewußtseinsabläufe der BürgerInnen an: „Der Staat will sein Monopol auf die Realität wahren.“ In einer Presseerklärung schreibt die Dichterin: „Obwohl ich in der gegebenen Situation als Opfer erscheine, kann ich es mir dank meines Charakters nicht erlauben, mich als Opfer zu gebärden. Mich interessiert die ästhetische Seite dieser ganzen Angelegenheit. Ich denke mir das als konzeptuelle Aktion – das heißt, ich werde meinen Aufenthalt an diesem Ort als eigentümliches Kunstwerk behandeln.“

Nach einer weiteren Vertagung des Gerichts am 10. September nahm dieses Kunstwerk die Form eines Hungerstreiks an. „Das Gericht versucht mit künstlichen, ungesetzlichen Mitteln, Zeit herauszuschlagen, um mich zum Selbstmord zu treiben und so zu verhindern, daß die „Ehre der Uniform“ beschmutzt wird“, schrieb Alina Mitte September an den Vorsitzenden des PEN-Clubs, Alexander Tkatschenko. „Wenn Alina jetzt etwas passiert“, sagte der Schriftsteller Andrej Ditow bei einer Pressekonferenz des PEN-Club: „Dann wird das kein Selbstmord sein, sondern Mord.“