■ Replik: Das Simpson-Urteil ist kein Freibrief
: Feministische Augenbinde

Zur Ehrenrettung amerikanischer Feministinnen sei hiermit festgestellt, daß beileibe nicht alle den Freispruch von 0. J. Simpson so hanebüchen kommentieren wie dies Erika Munk in der taz vom 6. Oktober getan hat.

Munk tut genau das, was sie den Geschworenen und jenen vorwirft, die Simpsons Freispruch bejubelt haben: Sie erwartete von der Jury kein Gerichtsurteil auf Grundlage des vorliegenden Beweismaterials, sondern ein gesellschaftspolitisches Signal – und ist nun empört darüber, daß es nicht das gewünschte gewesen ist. Damit nicht genug: Sie interpretiert den Freispruch als gerichtlich sanktionierten Freibrief für alle prügelnden Männer und lamentiert, daß das Recht des Angeklagten, nur nach Beseitigung „aller angemessenen Zweifel“ schuldig gesprochem zu werden, hier dem Kampf gegen Gewalt in der Ehe im Wege stand.

Liebe Göttin, schmeiß Hirn vom Himmel.

Aber fangen wir bei den Gemeinsamkeiten an: Wie Erika Munk glaube auch ich weiterhin, daß 0. J. Simpson schuldig ist, und seine angekündigte Suche nach den „wahren Mördern“ von Nicole Brown Simpson und Ronald Goldman jederzeit durch einen Blick in den Spiegel beenden kann.

Aber im Gegensatz zu Munk halte ich es für eine lobenswerte Einrichtung der amerikanischen Strafgerichtsbarkeit, daß – zumindest in der Theorie – niemand eines Verbrechens schuldig gesprochen werden darf, weil zwölf Geschworene irgend etwas „glauben“ oder, wie Munk, mit dem Wissen ausgestattet sind, daß die Hälfte aller Morde an Frauen von ihren Ehemännern und Freunden begangen werden, und die Wahrscheinlichkeit dieser Tötungsdelikte steigt, wenn die Frau ihren gewalttätigen Partner verläßt. Das sind Statistiken, die über eine Realität in der Gesellschaft Auskunft geben und von politischen Entscheidungsträgern immer noch viel zu oft mit skandalöser Ignoranz quittiert werden. Aber sie sind kein Indiz in einem Mordprozeß.

Eine Jury hat sich am vorliegenden Beweismaterial, an den Zeugenaussagen und an der Schlüssigkeit der Plädoyers zu orientieren, um zu einem Urteil zu kommen. Hier vermischt Munk, wie so oft, zwei Ebenen des Simpson-Falles: die öffentliche Debatte und das Gerichtsverfahren. Sie unterstellt den Geschworenen, als verlängerter Arm einer von ihr nicht näher definierten schwarzen community agiert und den Angeklagten aus Wut über den Rassismus des Polizisten Mark Fuhrman freigesprochen zu haben – eine Art „schwarze Rache“ für den Freispruch vier weißer Polizisten im Fall Rodney King vor drei Jahren.

Doch die Geschworenen des Simpson-Prozesses haben sich im Gegensatz zur Jury des Rodney- King-Prozesses offenbar an die geltenden Regeln gehalten. Den nachhaltigsten Eindruck hinterließ die Aussage eines der angesehensten Forensikexperten des Landes, der Schritt für Schritt, Blutprobe für Blutprobe zu dem Schluß kam, daß nicht nur Schlamperei, sondern auch Manipulation von zentralem Beweismaterial durch die Polizei wahrscheinlich war. Das erfüllt die Definition von „angemessenem Zweifel“ allemal – vor allem, wenn sich der Hauptbelastungszeuge Mark Fuhrman als fanatischer Rassist erweist.

Der Rassismus-Diskurs, kritisiert Munk, habe die Aufmerksamkeit vom „zentralen Thema“ der sexuellen Gewalt abgezogen. Vermutlich ohne es zu wollen, gibt sie im nächsten Atemzug zu, daß es ohne den permantenen Rassismus- Diskurs in den USA das Medienspektakel um 0. J. Simpson und damit auch die Debatte um Gewalt in der Ehe nicht gegeben hätte. Ganz richtig: Hätte es sich bei Nicole Brown Simpson ebenfalls um eine Afroamerikanerin gehandelt, wäre der Fall schnell in der Schublade „Schwarzes Ehedrama“ verschwunden. Auch weiße Feministinnen hätten diesen Fall kaum einer eingehenderen Betrachtung für würdig befunden.

Daß Simpson des Mordes an seiner weißen Ex-Frau und ihres weißen Bekannten angeklagt war, löste jene voyeuristische Faszination und Ambivalenz aus, mit der gemischte Beziehungen nach wie vor betrachtet werden – zumal, deutlicher als jeder Seifenopernautor es je hätte formulieren dürfen, die extremistischen Positionen vertreten waren: Auf der einen Seite der Rassist in Uniform, Mark Fuhrman, der auf Streifenfahrt Verdachtsmomente erfand, um gezielt gemischte Pärchen anzuhalten. Auf der anderen Seite Louis Farrakhans „Nation of Islam“, die Simpson bezichtigte, „mit dem Feind geschlafen zu haben“, bevor sie ihn dann großmütig als „black brother“ in die Arme schloß.

Wenn man aus feministischer Sicht etwas aus diesem Prozeß schlußfolgern will, dann die Erkenntnis, daß es im Schatten des Rassismus für schwarze und weiße Frauen nach wie vor schwierig bis unmöglich ist, eine gemeinsame Diskussion über sexuelle Gewalt zu beginnen. Statt dessen lamentiert Munk, daß der reiche Sportstar Simpson sich eine „Armee von Anwälten und Experten“ zusammengekauft hat, um jeden „möglichen Zweifel“ an der Anklage aufzuwerfen, als ob dies nicht Simpsons gutes Recht wäre.

Während Schwarze den Freispruch bejubelten, als habe man sich damit für jeden Lynchmord und jedes rassistische Fehlurteil der letzten Jahrhunderte revanchiert, hört man in Radio-Talk- Shows, von konservativen Politikern und Staatsanwälten die ersten Forderungen, Rechte des Angeklagten und seiner Verteidigung einzuschränken. Erstere übersehen, letztere unterschlagen, daß der Simpson-Prozeß so typisch für das amerikanische Gerichtswesen ist wie Schnee für die Sahara.

Die meisten Angeklagten bekommen überhaupt nie die Chance, „angemessene Zweifel“ zu säen: Im Hinterzimmer des Richters handeln Verteidiger und Staatsanwalt ein Schuldgeständnis und ein Strafmaß aus – der Richter unterschreibt. Kommt es doch zum Prozeß, so können sich die wenigsten Angeklagten ein Anwalts-und Expertenteam wie Simpson leisten, das dem Ermittlungsapparat der Staatsanwaltschaft Paroli bieten kann.

Mumia Abu-Jamal, dessen großer Fehler es war, sich bei den „Black Panthers“ statt im professionellen Football zu engagieren, ist nicht zuletzt zum Tode verurteilt worden, weil er weder einen Ballistikexperten noch einen Privatdetektiv bezahlen konnte. Verteidiger, die betrunken zum Prozeß erscheinen, ihre Mandanten verwechseln, einschlafen oder völlig unvorbereitet Zeugen befragen, sind keine Seltenheit – auch nicht in Mordprozessen, an deren Ende möglicherweise ein Todesurteil steht. Es trifft die Armen – und unter ihnen überproportional viele Schwarze. Justitia ist um ihre Augenbinde nur zu beneiden. Dies ist das zentrale Thema, das der Simpson-Prozeß verdeckt hat. Andrea Böhm