Vergangene Erfolge feiern

Sozialdemokraten feiern den 50sten Jahrestag ihrer Neugründung. Nach dem Festakt marschiert die Parteispitze getrennt in den Wahlkampf  ■ Aus Berlin Dirk Wildt

Nur Otto Schily verlor bei der Geburtstagsparty die Nerven. Als der bayerische Bundestagsabgeordnete am Samstag vormittag das Kongreßzentrum am Berliner Alexanderplatz betreten wollte, in dem die Sozialdemokratie den 50sten Jahrestag ihrer Neugründung feierte, wäre er beinahe ausgerutscht. Um ein halbes Dutzend Filmteams anschreien zu können, drehte er sich plötzlich auf der Eingangstreppe um und verlor dabei fast das Gleichgewicht. Dann schnauzte er die Kameramänner an: „Was fällt euch ein, auf der SPD so herumzuhacken.“

Abgesehen von diesem Ausfall aber hatten sich die Sozialdemokraten in Berlin fest im Griff – ungeachtet einiger Rücktrittsforderungen aus den westdeutschen Bundesländern an den Vorsitzenden Scharping. Auch wenn der ehemalige SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel zum seit Monaten andauernden Streit in der Parteispitze ordentlich Dampf abließ. „Ich bin ein Gegner davon, die Dinge zuzukleistern“, sagte er beim Festakt in der Kongreßhalle, in der neben Bundespräsident Herzog (CDU) fast die gesamte sozialdemokratische Prominenz vertreten war.

Vogel rief in den Saal, die SPD habe in der Vergangenheit nur deshalb erfolgreich sein können, weil den Menschen in der Partei die gemeinsame Sache wichtiger gewesen sei als die persönliche Profilierung. Diese hätten ihre Aufgabe darin gesehen, dem Vorsitzenden zuzuarbeiten. Riesenapplaus.

Doch was wie eine spontane Unmutsäußerung wirkte, hatte sich der einstige Kanzlerkandidat sehr gut überlegt. Später sagte er jedem, er habe Niedersachsens Ministerpräsidenten gemeint: „Wenn Schröder ein bißchen nachdenkt, weiß er, wer der Adressat meiner Worte ist.“ Vogel kanalisierte mit seiner Rede die unter Parteimitgliedern vorhandenen Aggressionen. Vogel hatte gesagt, was viele Funktionäre dachten, und diese konnten sich mit ebenfalls deutlicher Kritik zurückhalten. So wurde der Weg für einen Festakt frei, in dem vor allem die Verdienste der SPD in der Vergangenheit eine Rolle spielen sollten.

Insbesondere feierten die Sozialdemokraten Kurt Schumacher, der in dieser Woche 100 Jahre alt geworden wäre. Unter der Führung des ehemaligen KZ-Häftlings gründete sich die SPD am 6. und 7. Oktober in Wennigsen bei Hannover neu. Die 1863 gegründete Partei war zweimal verboten worden: Erst von Bismark mit seinen Sozialistengesetzen und 1933 von den Nationalsozialisten. Schumacher sprach sich bei der Neugründung für ein sozialistisches Deutschland aus. In Westdeutschland und West-Berlin verhinderte er die Vereinigung mit der KPD.

„Diesen Sommer bot die SPD kostenloses Theater“

Sozialdemokratische Werbefilme und Gastredner wie ein Mitbegründer der DDR-SPD boten einen Überblick über die sozialdemokratische Nachkriegsgeschichte. Schumachers Lebensgefährtin Annemarie Renger oder die norwegische Ministerpräsidentin Brundtland reihten einen angeblichen Erfolg an den anderen. Willy Brandts Ostpolitik, seine Sätze „Mehr Demokratie wagen“ und „Nun wächst zusammen, was zusammengehört“ sowie Fernseh- Bilder des letzten SPD-Bundeskanzlers Helmut Schmidt wirkten wie Balsam auf die Genossen. Die aktuellen Umfragen zur Wahl am 22. Oktober, nach denen die SPD in Berlin auf 26 Prozent abgerutscht ist, waren einen kurzen Moment vergessen.

Doch kaum war die Veranstaltung in der Kongreßhalle nach vier Stunden beendet, war es mit der symbolischen Eintracht vorbei. Getrennt marschierte die Parteispitze zur Wahlkampfbühne auf dem fünfhundert Meter entfernten Alex. Erst Schröder, dann Saarlands Ministerpräsident Oskar Lafontaine, dann Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis. Darauf erst einmal niemand.

Die Reihenfolge verriet mehr als die mangelnde Eintracht: Auf dem Alexanderplatz zeigte sich vor 6.000 Zuhörern (SPD-Schätzung), wer reden kann und kämpfen will – und wer nicht. Simonis, Lafontaine und Schröder griffen den politichen Gegner CDU und den „sichtlich gut genährten Bundeskanzler“ polemisch und mit Witz bei der Innen-, Außen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik an. Sie konnten gar wie Simonis über den Zustand ihrer eigenen Partei scherzen: „In diesem Sommer kostenloses Theater jeden Abend.“ Entsprechend lautstark kam der Applaus.

Der verschnupfte Scharping dageben blieb gewohnt blaß. Ginge es nach den Reden des steifen Vorsitzenden, würden sich die Ziele seiner Partei wohl fast allein auf soziale Gerechtigkeit reduzieren. Als die rote Hülle eines geplatzten SPD-Ballons vom Himmel mitten auf sein Mikrofon fiel, entfernte er ihn kommentarlos mit spitzen Fingern – wie wenn sich der Mann, der immerhin immer noch irgendwann Kanzler werden will, vor Wahlkämpfen ekeln würde.