: Taschentuch und starke Nerven
■ 59 Teilnehmer aus aller Welt greifen beim Bremer Klavierwettbewerb in die Tasten
Mit dem Zug von Minsk nach Warschau und weiter mit dem Bus nach Bremen: 40 Stunden war die sechzehnjährige Anna Schibajewa zum Bremer Klavierwettbewerb unterwegs. Es ist ihr achter Wettbewerb, sie wird begleitet von ihrer Mutter, die deutsch spricht. In die Schule geht sie nicht mehr, zum nächsten Wettbewerb fährt sie nach New York. An der Bremer Veranstaltung hat sie die interessante Repertoireanforderung gereizt, denn Musik des 20. Jahrhunderts wird sonst kaum verlangt. Hier jedoch sind Werke von Wolfgang Rihm, Karlheiz Stockhausen, Pierre Boulez und anderen dabei. Anna, die Svjatoslav Richter zu ihren großen Vorbildern zählt, hat als jüngste Teilnahmerin nur den ersten Durchgang geschafft, aber sie ist immer noch in Bremen. So gut sei die Atmosphäre und so wertvoll das Treffen mit den KollegInnen aus aller Welt.
Der Bremer Klavierwettbewerb wird im Abstand von zwei Jahren seit 1987 vom Landesmusikrat, der Sparkasse und Radio Bremen durchgeführt. Als erster Preis im nunmehr fünften Wettbewerb winken DM 15 000,- und die Produktion einer CD, „das ist ganz selten und besonders toll“, sagt Christoph Berner, der unter die letzten vier gelangt ist.
59 MusikerInnen haben sich angemeldet, 51 sind eingeladen worden, 30 sind gekommen, aus 20 Nationen, darunter drei Deutsche. „Was den Bremer Wettbewerb von allen anderen unterscheidet, sind sein Ambiente und seine Möglichkeiten. Wir haben alle im Jugendgästehaus untergebracht, dort stehen sechs Übungsflügel“, so Otto Thein vom Vorstand des Landesmusikrates. Darüber hinaus gibt es zwei Übungsräume bei Radio Bremen, niemand ist gezwungen, vom Zug an den Flügel zum Vorspiel zu hetzen.
Trotzdem ist die Situation hart, vor einer illustren internationalen Jury (Homero Francesch, Roland Keller, Gülsin Onay, Einar Steen-Nökleberg, Nina Tichmann, Maria Tipo, Catherine Vickers) sein Riesenrepertoire einschließlich zweier Klavierkonzerte spielen zu können. Da muß der 23jährige Michele Spiga während der Wiedergabe einer Schubert-Sonate mehrfach zum Taschentuch greifen und auch die Tasten abwischen.
Die umsichtig entwickelte Atmosphäre weiß auch die Jury zu schätzen: „Das ist so gemütlich organisiert, da hat man immer wieder die Ohren frei für die nächsten“. Roland Keller aus Deutschland ist einer aus der siebenköpfigen Jury, zu der vier Frauen gehören.
Es fällt auf, daß nicht einmal eine Frau unter den letzten sechs Finalisten ist. „Wir hätten gerne eine Frau im Finale gehabt. Aber es ging aus fachlichen Grunden wirklich nicht.“ Kriterien für die Beurteilung? „Der Notentext muß stimmen, und es wird Persönlichkeit verlangt. Es gibt unter den Jungen immer wieder welche, die einen unheimlich tief treffen. Kontroversen gibt es bei der Einschätzung der Musikerpersönlichkeit nur graduell, nicht grundsätzlich“. Zweiwöchige Anwesenheit in Bremen bei Dauereinsatz: Was bringt die Jury eigentlich dazu, so viel für die (möglichen) Karrieren anderer zu investieren? „Ganz einfach das Bedürfnis, den guten jungen Leuten zu helfen. Und natürlich auch zu wissen, was so kommt“, sagt Roland Keller.
Natürlich sind die Wettbewerbsgewinner nicht immer zehn Jahre später auf den ersten Podien der Welt zu finden. Christoph Berner weiß aber schon, was nötig ist, um nach oben zu kommen. „Glück, Nerven, Gesundheit, gute Kontakte. Auf jeden Fall aber muß man das Fachidiotentum meiden, ich bin meinen Eltern sehr dankbar, daß sie mich zum Abitur, das ich damals partout nicht machen wollte, dann doch überredet haben. Mich beeinflussen immer auch die musikhistorischen Umstände und die Biographien“. Muß sich das nicht aus dem Notentext allein erschließen? „Tut es auch. Aber diesen Prozeß kann man beschleunigen, wenn man etwas dazu liest.“ Juror Roland Keller meint allerdings, daß manche sich nach so einem Wettbewerbshöhepunkt nicht mehr entwickeln, sogar stagnieren.
Es herrscht eine freundliche, wuselig-betriebsame Atmosphäre beim Klavierwettbewerb, die frei von Konkurrenz scheint. „Das ist auch so“, sagt Ingeborg Fischer-Thein von der Sparkasse, die ein Zertifikat spaßig als „Mama“ der Gruppe ausweist. Vielleicht ist das eine deutliche Position in den nie ganz unumstrittenen internationalen Wettbewerbsprozeduren, in denen das technische Gesamtniveau – wie auch im Leistungssport – immer weiter steigt, bei immer jüngerem Teilnahmealter.
„Man kann“, hatte der große Pianist Artur Rubinstein kurz vor seinem Tod gesagt, „nicht besser Klavierspielen als die Jungen. Aber man kann besser Musik machen“. Beim Bremer Wettbewerb wird dies zumindest versucht.
Ute Schalz-Laurenze
Bremer Klavierwettbewerb 1995 1. Preis mit 15. 000 Mark, 2. Preis mit 10. 000 Mark und 3. Preis mit 5000 Mark dotiert: Vierter und letzter Durchgang (Orchester) am Freitag, den 13. Oktober um 19.30 in der Gutsscheune Varrel-Stuhr (live übertragener von Radio Bremen 2 und drei).
Abschlußkonzert und Preisverleihung am 14.10. um 20.00 Uhr in der Gutsscheune Varrel-Stuhr mit der Nordwestdeutschen Philharmonie Herford unter der Leitung von Klaus Bernbacher.
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