Außerplanmäßige Entladung

■ Entgleiste Waggons mit Erde von der Baustelle Potsdamer Platz sorgten für Chaos am S-Bahnhof Schöneberg / Bis auf weiteres bleibt ausgebaggertes Erdreich in Mitte liegen

Ein ohrenbetäubender Knall, so ein Zeuge, zerriß die Stille. Der Bahnsteig auf dem S-Bahnhof Schöneberg sei plötzlich in eine dicke Staubwolke gehüllt gewesen. Eine Diesellok und 22 Waggons voller schwarzer Erde von der Baustelle am Potsdamer Platz sorgten gestern kurz nach zwölf Uhr für Chaos auf dem S-Bahnhof und für einen Transportstopp der Erdabfuhr von der Baustelle. Sieben Waggons entgleisten, zwei stürzten ganz um. Die tonnenschweren Gewichte drückten die Schienen zur Seite und hoben sie samt Schwellen aus dem Gleisbett. Nur die Lok stand nach dem Unfall anscheinend unbeschadet da. Aus dem Fahrerhaus sei anschließend ein kreidebleicher Lokführer geklettert, berichtete der Zeuge.

Personen kamen nicht zu Schaden. Der Sachschaden konnte noch nicht beziffert werden. Die umgestürzten Waggons waren wenige Meter von den Schienen der S—Bahn entfernt zum Liegen gekommen. Dadurch brauchte der S-Bahn-Verkehr nicht eingestellt werden.

Ratlose Bahnpolizisten und Bahnarbeiter umkreisten am Nachmittag die Unglücksstelle, krochen zwischen den gestrandeten Waggons hindurch, klopften gegen die Schienen und wischten sich den Schweiß von der Stirn.

„Vier Mann, vier Ecken“, riefen ihnen die Schaulustigen vom Bahnsteig zu. Dort hatten sich vornehmlich Männer versammelt, die mit roten Wangen fachsimpelten, was das Zeug hielt, und dabei noch einmal richtig ihre eigene Modelleisenbahnzeit zu durchleben schienen. „Jetzt sind die Gleise bis zum Potsdamer Platz blockiert“, war sich einer sicher. „So schnell kriegen die den Zug nicht weg.“

Die Erde, die gestern außerplanmäßig „abgeladen“ wurde, gehört zu den neun Millionen Tonnen Erdreich, die in den nächsten Jahren im zentralen Bereich Berlins ausgehoben werden, um Platz zu schaffen für vier Tunnel mit Bahnhöfen, ein komplettes Regierungsviertel und vier Großbauvorhaben. Zielbahnhof der gestrigen Fuhre war Lübbenau, wo Löcher, die der Braunkohleabbau gerissen hat, mit Erdreich aus der Hauptstadt aufgefüllt werden.

Um den Abtransport dieser gewaltigen Menge und die Lieferung von Baumaterial optimal zu organisieren, war im März 1993 eine Versorgungsanlage für Europas größte Baustelle am Gleisdreieck eröffnet worden, die „Gesellschaft Baustellenlogistik Potsdamer Platz mbH“.

Die Pressestelle der Deutschen Bahn vermochte gestern noch nichts über die Ursache des Unfalls zu sagen. „Bis der Schaden behoben ist“, bestätigte Pressesprecherin Irene Liebau die Spekulationen vor Ort, „kann keine Abfuhr von Erdtransporten vom und keine Zufuhr von Baumaterial zum Potsdamer Platz erfolgen.“ Der Grund: Es gibt zwischen Schöneberg und Potsdamer Güterbahnhof nur dieses eine Gleis. Man bemühe sich jedoch um eine rasche Behebung des Schadens. Auf eine Zeitspanne wollte sich Liebau jedoch nicht festlegen.

Wer vermutet, daß der Tunnelanstich von Bundeskanzler Helmut Kohl diese Woche am Freitag, dem 13., durch den Unfall behindert wird, der hat sich zu früh gefreut. „Den einen Spaten voll kriegen wir zur Not auch noch so weg“, hieß es in berufenen Kreisen, die sich aber nicht namentlich zitieren lassen wollten. Plutonia Plarre