Komplizierte Beziehungskiste

■ Eberhard Seidel-Pielen wirft Blitzlichter auf uns Deutsche und „unsere“ Türken. Viele Fragen an ein gespaltenes Verhältnis, Antworten sind nicht in Sicht

Zum Willkommen gab es Blumen und warme Worte: Als im November 1961 auf dem Münchner Hauptbahnhof die ersten „Gastarbeiter“ aus der Türkei eintreffen, zeigt sich die Bundesrepublik von ihrer besten Seite. Man muß dankbar sein für die Menschen auf dem Bahnsteig – nur wenige Wochen zuvor hat die DDR sich und ihr abwanderndes Arbeitskräftepotential endgültig eingemauert.

Dreißig Jahre später ist diese Mauer wieder verschwunden, in Mölln und Solingen sterben Menschen, weil sie türkischer Herkunft sind, Parolen drohen „Türken raus“, doch die, die gemeint sind, haben längst ihren festen Platz im Stadtbild und in der Gesellschaft. Dreißig Jahre nach Ankunft der ersten Migranten aus der Türkei stehen fast in jeder Rubrik des Branchenbuchs türkische Namen, und wenn Frankfurter, Kölner oder Berliner Gymnasien stolz die Liste ihrer Abiturienten ausdrucken, dann stehen neben Müllers und Meiers Sprößlingen längst auch die von Özgürs und Kayas drauf. Gleichzeitig wechseln links- alternative deutsche Eltern ihren Wohnbezirk, damit ihr Jüngster nicht in eine „Ausländer-Schule“ kommt. Und bei einer Umfrage unter türkischen Moschee-Besuchern geben 97 Prozent der Befragten an, keinerlei Kontakt zu Deutschen zu haben.

Dreißig Jahre, in einer Zweier- beziehung haben viele dann längst die Silberhochzeit oder die Scheidung hinter sich. Man liebt sich, trennt sich, erträgt sich, haßt sich, zumindest kennt man sich. Für die unfreiwillige deutsch-türkische Beziehungskiste trifft keines dieser Merkmale zu. Auch nach dreißigjährigem Mit- oder eher Nebeneinanderleben, so diagnostiziert der Berliner Publizist Eberhard Seidel-Pielen, „krankt der deutsch- türkische Dialog am sichtlich begrenzten Interesse der Sprechenden und an deren mangelnder Offenheit“.

„Annäherung an ein gespaltenes Verhältnis“ nennt Seidel-Pielen deshalb sein neuestes Buch mit dem selbstironischen Titel „Unsere Türken“, wohl wissend, daß auch ein „Verhältnis“ immer eine zweiseitige Angelegenheit ist. Seidel-Pielen versucht, sich dieser chronisch knirschenden Beziehung von beiden Seiten zu nähern – ein Versuch, der selten, und allein schon deswegen lesenswert und streitwürdig ist. „Unsere Türken“ ist nicht ohne Schuldzuweisungen an die bundesrepublikanische Gesellschaft, dort wo sie sie verdient, aber auch nicht ohne deutliche Kritik an der türkischen Community, dort wo sie sich abschottet, in nationalistische oder religiös-fundamentalistische Anachronismen flüchtet und es sich bei Kritik am eigenen Verhalten in der „Opfernische“ bequem macht.

Dabei sind Deutsche und Türken, so eine These des Buches, in ihrem „gebrochenen Selbstbewußtsein“ eigentlich „seelenverwandt“: hier „der Stolz der Türken auf das Türkentum, das Festhalten an Blutsbanden“ – dort das deutsche Selbstverständnis mit seinem Erbpachtrecht auf ethnische Homogenität, das „keine Binde- Strich-Identitäten“ toleriert. Deutsche und Türken – eine Partnerschaft zwischen zwei Bevölkerungsgruppen mit den typischen „Gefühlskonstanten Angehöriger verspäteter Nationen – dem Schwanken zwischen Minderwertigkeitsgefühl, Aggressivität und Größenwahn“.

Die historischen Bezüge Seidel- Pielens geraten manchmal zum allzu rasanten Schnellwaschgang. Spannend und lesenswert wird das Buch eher da, wo es sich in aktuelle, alltägliche Konfliktfelder einmischt und dabei linke Ausländerpolitik, mit all ihren Paternalismen, Opferidentitäten und dem Mythos vom allzeit edlen Ausländer gegen den Strich bürstet: Wie nimmt man deutschen Besuchern eines Jugendzentrums die durchaus reale Angst vor der physischen Dominanz der jungen Türken? Wie thematisiert man Nationalismus, Frauen- und Schwulenfeindlichkeit unter „antifaschistischen“ Türken, die jede Kritik mit der Keule „deutscher Rassismus“ erschlagen? Wie geht man um mit einer islamischen Privatschule im Dunstkreis des Fundamentalismus, die nicht zu Unrecht das Grundrecht auf Religionsfreiheit für sich beansprucht?

Seidel-Pielen hat keine Antworten, sein Buch ist nicht mehr, als es vorgibt zu sein: eine Annäherung. Schade! Man hätte an vielen Punkten, die der Autor nur antippt, gern weitergedacht. Immerhin, das Buch traut sich unbequeme Fragen zu stellen. Und das ist bei diesem Thema – bezeichnenderweise – schon viel. Vera Gaserow

Eberhard Seidel-Pielen: „Unsere Türken, Annäherung an ein gespaltenes Verhältnis“. Elefanten Press Berlin, Berlin 1995, 200 Seiten, 29,90 DM