Und sonntags geht's in die Fabrik

Beim Reifenhersteller Pirelli laufen die Bänder nonstop. Die ArbeiterInnen haben sich das freie Wochenende für vage Arbeitsplatzgarantien und etwas mehr Geld abhandeln lassen  ■ Aus Breuberg Heide Platen

Die Fabrik unterhalb des Breubergs sieht von außen aus wie eine Manufaktur aus dem vergangenen Jahrhundert. Ein Türmchen, ein Fabrikschornstein, kleine Sand- und Backsteinbauten, flache, gewölbte Hallen. Vor Tor 1 flattern die gelb-roten Firmenfahnen von Pirelli. Und seit heute ist das freie Wochenende abgeschafft.

PR-Chef Hans-Eberhard Kinting lehnt sich zufrieden zurück und zieht an seiner Pfeife. Die „hundertprozentige Tochter der echt italienischen Mutter“ in Mailand hat gerade ihren ersten Arbeitstag der neuen Siebentagewoche begonnen. In den Fabrikhallen organisiert sein Kollege Hans-Jürgen Schröder einen Fernsehauftritt. Der Betriebsratsvorsitzende muß her: „Und dann am besten noch ein Ausländer und eine Frau.“

In den Hallen riecht es süßlich nach Gummi. Die modernisierte Fabrik schnurrt wie ein elektronisches Uhrwerk. 1.556 „Gewerbliche“, also ArbeiterInnen, und 545 Angestellte sind zur Zeit auf der Gehaltsliste von Pirelli. Von ihnen sind nur wenige an den Maschinen und Transportstraßen zu sehen, über die täglich 20.000 Reifen rollen.

An der Decke kreisen Laufbänder. Im breiten Mittelgang blinkt der Transportwagen „Cäsar“ und fährt ferngesteuert durch die Gegend. Fahrradfahrer auf gelben Betriebsrädern kreuzen halsbrecherisch seinen Weg. Am Ende der Halle baut eine Maschine Reifen zusammen. Schröder: „Von A bis Z. Das Modernste, was es gibt.“

Die Errungenschaft ist nicht nur Augenweide, sondern auch Ohrenschmaus. Sie faucht, zischt, brummt, dröhnt wie ein brünftiger Hirsch, schnaubt, gibt ein entschieden erleichtertes „Pfft-Pütt“ von sich und steuert den nächsten Arbeitsgang an. Schröder doziert mit Blick auf die leere Halle mit PR- mäßigem Qualitätsbewußtsein: „Reifenherstellung ist immer noch Handarbeit.“

Währenddessen hatte der Betriebsrat schon, Arbeitsplätze hin oder her, dem technischen Fortschritt Lob gezollt: „Das ist jetzt alles ganz sauber hier. Bis vor ein paar Jahren war das noch eine Drecksarbeit.“ Ein junger Arbeiter im Blaumann gibt am Rande Auskunft über seine Einstellung zur Siebentagewoche: „Das Wochenende kannste vergessen! Aber was willste machen?“ Er zuckt die Schultern und geht.

Nicht, daß zu erwarten gewesen wäre, daß ausgerechnet die Chemiearbeiter – weder bei Pirelli in Breuberg im Odenwald noch anderswo – kämpferisch die Faust aus der Tasche ziehen. Hier aber scheint nur eine arbeiterspezifische Körperbewegung vorzuherrschen: resigniertes Achselzucken.

Der Betriebsratsvorsitzende Norbert Schäfer ist gelernter Maschinenschlosser und seit 25 Jahren bei „der Pirelli“. Er hat sich ein paar Sätze zurechtgelegt, die er immer wieder brauchen kann: „Hier hat keiner bereitwillig Hurra geschrien!“ Aber den großen Protest hat es auch nicht gegeben: „Keine Unruhe, aber auch keine Begeisterung.“

Die Konkurrenz sei groß, allein in Deutschland gebe es fast 100 Reifenhersteller. Pirelli, da klingt Stolz an, „macht teure Reifen für teure Autos mit hohen Geschwindigkeiten und bietet dabei höchste Sicherheit“. Der Betriebsrat habe sich die Entscheidung „nicht leicht gemacht“. Er sei in eine Zwangssituation geraten, nachdem Pirelli schon einmal Wochenendarbeit beantragt hatte. Damals habe die Firma die Genehmigung vom Regierungspräsidium erhalten und die Einigungsstelle – ein Gremium aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern – habe sie abgesegnet. Die Einigungsstelle war der seit 1994 im Gesetz vorgeschriebenen Argumentation gefolgt, daß Pirelli die zusätzlichen Schichten brauche, um auch im europäischen Ausland konkurrieren zu können. Schäfer: „Angefangen hat das mit der Firma Michelin. Die waren die Vorreiter in der Reifenindustrie.“ Michelin hatte, mit wohlwollender Unterstützung des Wirtschaftsministeriums, im Saarland die Genehmigung bekommen.

Der Odenwald, abgeholzt und verkarstet, um ein bißchen Brennholz zu gewinnen, war zu vorindustriellen Zeiten ein armer, dünn besiedelter Landstrich. Kleine Bauern säten und ernteten auf kargen Böden, Wanderhändler trugen ihre wenigen Waren weit über das Land. Das Werk auf dem Gelände einer alten Ölmühle produzierte seit Ende des vorigen Jahrhunderts technische Gummiwaren, Fahrradreifen, „alles mögliche“ und, weiß Kinting, „schon ganz früh auch Autoreifen“. Pirelli hat die Reifen- und Gummiwarenfabrik 1963 übernommen, damals noch mit dem Namen des Firmengründers Veith kombiniert. Ein alter Mann vor dem kleinen Höchster Bahnhof hat das alles schon von seinem Großvater gehört: „Wir hätten hier doch nichts gehabt ohne die Pirelli und die Metzeler.“ Metzeler gehört ebenfalls zur Pirelli-Gruppe und produziert nebenan Motorradreifen. Sohn und Schwiegertochter, erzählt er, arbeiten ebenfalls „im Werk“: „Schicht und Überstunden haben die doch auch schon vorher am Wochenende geschoben.“ Seine Frau hütet währenddessen Kinder: „Da muß man einfach zusammenhalten.“

Daß die Odenwalder bei aller Verbundenheit mit „der Pirelli“ nicht gerade markentreu sind, zeigt ein Rundgang auf dem Bahnhofsparkplatz. Da stehen die Karosserien auf Dunlop, Michelin und Goodyear. Aber da gibt es auch unbekannte Produkte, No- Name-Gummis. Die kommen, hatte wiederum Betriebsrat Schäfer eingestanden, aus Importländern, vor allem aus Asien. Und sind eben trotz der 50 Prozent Firmenrabatt „draußen manchmal noch billiger zu kriegen“. Hans- Eberhard Kinting steht vor den im Gang zu seinem Büro dokumentierten Pirelli-Plakaten aus 32 Jahren Firmengeschichte. Sein liebstes stammt aus dem Jahr 1966. Oben räkelt sich eine barbusige Südseeschöne auf dem Autodach, unten steht der Wagen auf Pirelli-Breitwandreifen – den „Beinen ihres Autos“. In den letzten vier Jahren sind ein Drittel der Arbeitsplätze bei Pirelli gestrichen, ist rationaliert und modernisiert worden.

Die Produktion von Lkw-Reifen wurde vor zwei Jahren ganz in die Türkei und nach Italien ausgelagert. Der Schock darüber sitzt tief in der Region. Kinting: „Wir haben aber keinen entlassen.“ Fluktuation und Ruhestand seien zur Reduzierung der Arbeitsplätze um ein Drittel genutzt worden. Umsetzungen in andere Abteilungen allerdings hätten sich auch ehemalige Meister gefallen lassen müssen, wenn sie bleiben wollten. Der PR-Chef seinerseits findet, daß Existenzangst auch produktiv sein könne und lobt die Belegschaft, die die Umstrukturierung „so klaglos“ hingenommen und dabei noch jede Menge eigener Spar- und Verbesserungsvorschläge gemacht habe.

Auch das deutsche Management habe Fehler gemacht und müsse umdenken: „Die haben aus dem vollen gelebt und waren zugespeckt.“ Mit der Siebentagewoche, die „erstaunlich ruhig“ akzeptiert worden sei, habe sich die Maschinenlaufzeit von jährlich 270 auf 330 Produktionstage erhöht. Das bedeute eine Mehrproduktion von 700.000 Reifen. Er erläutert die Firmenpolitik: „Hier in Deutschland müssen wir uns auf hochwertige Produkte spezialisieren.“

Dazu gehört der „Renner“ der Saison. Die Produktion des Hochgeschwindigkeitsreifens P 6000 ist im März begonnen worden. Autotester lobten ihn hoch. Pirelli beliefert mit etwa je einem Drittel der Produktion große Autofirmen, exportiert für die eigene Firmengruppe und bedient den Ersatzreifenmarkt.

In der Siebentagewoche sieht Kinting „eine nicht rückholbare Initialzündung für andere Branchen“: „Das Tor ist nun mal geöffnet.“ Er sieht sich und die Belegschaft nun in einer „Schicksalsgemeinschaft“, die „die Kröte schlucken mußte“. Betriebsrat Schäfer hatte die Sonntagsarbeit als das „letztlich kleinere Übel“ bezeichnet, wenn es denn die Arbeitsplätze sichere. Aber für die Beschäftigten bedeute es eine große Umstellung.

Was die neuen Schichten mit kurzem Wechsel für die Menschen bedeuten, will so genau noch keiner wissen. Und der erste Schichtplan gibt nur ungenügend Auskunft. Der liest sich, bei Erhalt der tariflich vereinbarten 37,5 Wochenstunden zum Beispiel „F F, S S, N N N“ und bedeutet je zweimal Früh- und Spät-, dreimal Nachtschicht. Danach gibt es zwei, nach der Nachtschicht drei Tage frei. Wer ab Samstagabend am Wochende dran ist, bekommt ein Schichtantrittsgeld von 50 Mark, der tarifliche Wochenendzuschlag bleibt erhalten. Das alles wird, haben Firmenleitung und Betriebsrat errechnet, ungefähr 300 Mark netto mehr auf dem Lohnkonto ausmachen.

Dazu kommen einige „Freischichten“, freie Tage im Ausgleich für Sonntagsarbeit, die „in Absprache mit dem Meister“ zum Beispiel zu Familienfesten genommen werden könnten. Die „hohen Feiertage“ bleiben frei, bei Kurzarbeit werden 90 statt der üblichen 58 Prozent Kurzarbeitergeld gezahlt.

Außerdem entstehen 200 neue Arbeitsplätze. Schäfer: „Die Leut' mußte schließlisch was habbe' fer dene ihrn kaputtene Sonntach.“ Wegen der bisher unbekannten Auswirkungen auf die Gesundheit der Pirelli-ArbeiterInnen, so Schäfer, ist für das auf zwei Jahre genehmigte Modell zunächst ein halbes Jahr Probezeit festgelegt: „Wenn des net geht, mache' mer des net mehr.“

Der Betriebsrat ahnt, daß der neue Arbeitsrhythmus gewöhungsbedürftig ist: „Die Leute müssen ihr Freitzeitverhalten verändern.“ Das gelte ebenso für das Familienleben wie für die „vielfältigen Vereinsaktivitäten und den Kontakt zu Freunden und Nachbarn“. Das sei schon eine „bittere Pille“.

Zu den Auflagen für die Firma gehört, daß sie während der gesamten Laufzeit des auf zwei Jahre genehmigten Modells nicht aus betrieblichen Gründen entlassen darf. Diese Arbeitsplatzsicherung, schwant Schäfer, sei aber im internationalen Konkurrenzkampf wohl nicht von Dauer: „Das wird man auch nicht auf Jahrzehnte durchhalten können.“