Titanische Spannkraft

■ Generalmusikdirektor Günter Neuhold wagte sich an die Urfassung von Mahlers 1. Sinfonie – und gewann

„Lassen Sie den Konjunktiv mal lieber weg!“ kommentierte spontan eine Dame die Bemerkung eines Herrn: „Das könnte was werden!“. Vorausgegangen war das umjubelte philharmonische Einstandskonzert des neuen Generalmusikdirektors Günter Neuhold. Nach einem unglaublichen Arbeitseinsatz – die Premiere von Schönbergs „Moses und Aron“, für die er auch noch einen großen Teil der Chorproben gemacht hat und die Premiere von Puccinis „Madame Butterfly“ – nun noch dieses Sinfonie-Konzert: es ist lange her, daß die Philharmoniker so intensiv, so motiviert und damit auch so gut gespielt haben. Das ganze Elend der vergangenen Jahre, das im Laufe der Zeit auch viele Abonnenten vertrieben hatte, schien wie vergessen.

Mit Prognosen ist man in Bremen angesichts vieler immer iweder enttäuschender Entwicklungen zu Recht vorsichtig geworden. Aber wenn man nun Günter Neuhold Gustav Mahlers erste Sinfonie hat dirigieren sehen, dann dürfte kein Zweifel daran sein, daß wir es hier mit einem Könner zu tun haben, der die genaueste Realisierung einer Partitur zum Zentrum seiner Arbeit macht. Die Genauigkeit und differenzierte Vielseitigkeit seiner Zeichengebung bewirkt ein Klangbild von einem außerordentlichen gestischen Reichtum. Die Spannkraft seiner Körpersprache scheint direkt die Klänge zu provozieren. So konnte, weil das Philharmonische Staatsorchester exzellent folgte, das innere Programm von Mahlers 1888 entstandenem Werk in seinen berückenden, aber gebrochenen Naturklängen, seinen sarkastischen Tönen, seiner ausgelassenen Derbheit, seinem parodistischen Trauermarsch nach dem Lied „Frères Jaques“ und endlich der hymnisch-ekstatischen Krönung eindrucksvoll entstehen: „Dall'Inferno all Paradiso“ lautete der ursprüngliche Titel des letzten Satzes der Sinfonie mit dem Namen „Der Titan“.

Neuhold hetzt nie, jedes Detail, jede Klangfläche wird mit ganz viel Ruhe entworfen und ausgekostet, sorfältig und vorsichtig: manchmal wirkt es so, als wolle er das gerade Entstandene nicht wieder verlieren. Stets auch ist das Geschehen Antizipation des Kommenden oder aber Nachwirkung des Vergangenen: eine solche Disposition negiert etwas das Zerrissene, das andere Dirigenten gerne betonen. Es bedeutet bei Neuhold allerdings, weil dramaturgisch hervorragend gemeistert, keine Glättung, sondern das Gegenteil: er stattet dadurch das Chaotische, das Verzweifelte, das Bizarre und Doppelbödige mit einer innerlichen Logik aus, die die HörerInnen in einen regelrechten Bann ziehen. Das will bei einer Sinfonie, von der es über dreißig gute CD-Aufnahmen gibt, schon einiges heißen.

Für Mahler-LiebhaberInnen war in dieser Wiedergabe interessant, daß Neuhold sich für die fünfsätzige Urfassung entschied, die heute praktisch nicht mehr gespielt wird: in der Tat ist dieser „Blumine“ genannte Satz, wie der Dirigent Bruno Walther meinte, ein „Stilbruch“.

Eingeleitet wurde das Konzert von einer trefflichen Wiedergabe von Josef Haydns Cello-Konzert in C-Dur, das Neuhold wohltuend in kleinster Besetzung spielen ließ: Transparenz durch eine Fülle von Artikulationen war die Folge. Als Solist debutierte Mario Brunello: überzeugende technische Perfektion, aber auch gelegentlich deren Verselbständigung. Je schöner der Ton wurde, desto mehr verlor er die rhetorische Spannung dieser ungemein heiklen und schwierig zu machenden Musik. Die Ära Neuhold: Das könnte was werden!

Ute Schalz-Laurenze