Das Fleisch fließt von den Knochen

Die Auflösung malen: Der französische Philosoph Gilles Deleuze erläutert die Bildwelt des englischen Malers Francis Bacon, dessen Werk um Religion, Sexualität und Gewalt kreist  ■ Von Harald Fricke

Die Postmoderne ist 1984 auf ihrem Höhepunkt. Zombie-Kult und Filme wie „Blade Runner“ und Greenaways „Kontrakt des Zeichners“ bebildern die Idee von den unendlich verdoppelbaren Zeichen. In der Malerei benutzt Julian Schnabel Kunstgeschichte als frei verfügbares Material, das lediglich stilsicher beherrscht werden muß. Eklektizismus dominiert über den Glauben an das originäre Werk. Nichts ist im Patchwork einer posthistorischen Welt mehr authentisch, ideal oder auf ein Ziel ausgerichtet. Ästhetik ist en vogue, Moralphilosophie ein alter Hut. Es zählt allein, schnell und intensiv im Denken vorwärtszukommen.

Daß ein Philosoph wie Gilles Deleuze sich in diesem Augenblick mit dem irischen Maler Francis Bacon beschäftigt, auf seine Bilder zugeht und sie in einem kunsthistorischen Bogenschlag analysiert, der über Cézanne und Rembrandt bis in die Zeit ägyptischer Hochkulturen reicht, kann zunächst erstaunen. Bacon, immer wieder als dunkler Künstler fernab vom Markt stilisiert, zeigt nicht, daß die Leinwand eine Spielwiese für Zeichen ist; er zögert, wenn es um die Verabschiedung vom Subjekt geht; er malt nahezu innig leidende Kreaturen. Und Deleuze, der im „Anti-Ödipus“ das Ich gegen ein Es tauscht und dann durch alle möglichen Maschinen tanzen läßt, ist plötzlich von Bildern fasziniert, auf denen der Mensch in sich gekehrt um sein Leben ringt: Der Kampf mit Religion, Sexualität und Gewalt hat das Werk Bacons geprägt wie vor ihm die Literatur Kafkas. Deleuze nimmt diese Ähnlichkeit gleich als Analogie: „Bacons Figur ist der schamhafte Lange oder der große Schwimmer, der nicht schwimmen konnte, der Hungerkünstler; und die Bahn, der Zirkus, die Plattform ist das Theater von Oklahoma.“

Doch Deleuze sieht beide nicht als gescheitert. Kafkas „kleine Literatur“ ist für ihn Beleg eines subjektlosen, insofern erleichterten Körpers, der den territorialen Bindungen entwischt, egal ob gesellschaftlicher oder sexueller Art. Und Bacon ist für ihn Maler der Auflösung par excellence – das Fleisch fließt von den Knochen, und Bild auf Bild streben seine rosafarbenen oder grauen Körper danach, sich mit der monochromen Fläche zu vereinen: Rosa in Rot, Grau in Grau. Selbst der Kopf hat nicht länger „eine strukturierte räumliche Organisation“, sondern fungiert nur als Anhang des Körpers, als eine unter vielen Deformationen. Deleuze nennt es das „Fleisch-werden“ mit der Leinwand, nach einem Bild, das der 1992 verstorbene Bacon selbst benutzt hatte, um sein Interesse an figürlicher Darstellung zu beschreiben. Auf die Frage, wie er sich eine bildhauerische Umsetzung seiner Malerei vorstelle, antwortet er: „das wäre vermutlich eine Art Gehsteig, herausgehoben aus seiner naturalistischen Umgebung, aus dem sich die Figuren herausbewegen, als ob sie dem Fleisch entstiegen, und zwar Figuren, die, wenn möglich, bestimmte Personen auf ihrem täglichen Rundgang darstellen. Ich hoffe Figuren machen zu können, die aus ihrem eigenen Fleisch herauswachsen, mit Melone und Regenschirm, und ich hoffe, sie zu Figuren zu machen, die so ergreifend sind wie die Kreuzigung.“

Diesem Bild weicht Deleuze nicht von der Seite, trotz aller Verstiegenheiten, die sich daraus ergeben müssen. Das religiöse Pathos, auf dessen Wirkung Bacon bei seinen Bildern hofft, wird von Deleuze in das hysterische Beharren des Künstlers auf Gegenwart transformiert. Der Maler zeige darin Figuren, die vor dem Anblick einer Zukunft aufschreien, die sie hindert, aus der Gegenwart zu entweichen. Sie verharren so im Zustand der Stasis – was in der Darstellung jedoch auf den Moment festgelegt ist, bevor etwas passiert: eine Pause in der Erzählung.

Nicht anders der Raum, der diese Figuren umgibt. Die abgeschlossenen Situationen, von denen Bacons Bilder beherrscht sind, deutet Deleuze zwar als Bühnen (auch im Sinne eines Artaudschen „Theaters der Grausamkeit“). Doch wird auf einer solchen Bühne nichts mehr illustriert oder erzählt. Bacon, so Deleuze, halte sich ans „Faktum“. Die Figuren sind in ihrer Relation mit anderen Objekten (Stuhl, Bett, Regenschirm) dargestellt. Auf den Triptychen wiederum bilde das Verhältnis der einzelnen Figuren zueinander ein Faktum. Erzählt wird dabei trotzdem nichts, nur sichtbar gemacht: „Wenn der Zeuge in der Mitte durch die Liegenden und durch das klar bestimmte, malvenfarbene Oval geliefert wird, so sieht man auf der linken Figur einen verminderten Torso, da ihm ein ganzer Teil fehlt, während rechts der Torso dabei ist, sich zu vervollständigen, sich bereits eine Hälfte hinzugefügt hat.“

Die Exaktheit der Bildbeschreibung ist verblüffend und zugleich der Arbeitsweise des Malers angemessen. Bacon verwischt, deckt ab und überlagert; „Sphinx“ (1954) oder „Study after Velázquez' portrait of Pope Innocent X“ (1953) sind mit Spachtelspuren überzogen, die in einem „all over“-Effekt mit dem päpstlichen Gewand korrespondieren. Auch das ist Technik. Nirgends aber unterstellt Deleuze den Bildern von Bacon eine symbolische Ebene, alles wird „unterhalb der Repräsentation“ gelesen, um „zum Präzisen zurückzukommen“. Deshalb die Betonung der Isoliertheit der Figuren im Gegensatz zu einem wie auch immer gearteten Geschehen. Bei Bacon zeige sich der Übergang von der alten Figuration zu einer, die auf „Sensation“ beruht, auf unmittelbarer Sichtbarkeit und einer konkreten, das heißt auch taktil ausgerichteten Empfindung. Nicht anders bezieht Timothy J. Clark für den abstrakten Expressionismus Position, der sich allerdings von der Figuration überhaupt verabschiedet, weil eine dementsprechende Ordnung angesichts des technischen Fortschritts und der politischen Systeme dieses Jahrhunderts falsch und entstellt ist.

Deleuze aber möchte die Figur gegen eine Abstraktion verteidigen, deren Form „an das Gehirn adressiert“ ist. Kunst soll ohne den Umweg über die Einbildungskraft wahrnehmbar werden, so wie Cézanne sich als Spät-Impressionist bereits von Sujets verabschiedet hatte, die nicht unmittelbar ins Auge sprangen. Dem daraus resultierenden Durchbruch der Fotografie jedoch mißtraut Deleuze ebenso wie dem abstrakten Expressionismus, der aus formalen Oppositionen wieder bloß einen „symbolischen Kode entwickelt“. Das Foto sei dagegen nicht einmal an die Wahrnehmung gekoppelt, sondern behauptet vielmehr: „über das Sehen zu herrschen“. Indem sie alles sichtbar macht, gibt sie bereits ein Verhältnis zur Welt vor, dessen visuelle Ordnung als objektives Abbild eine Ununterscheidbarkeit nicht mehr zuläßt.

Doch nur in diesem noch chaotischen Zustand gibt es Spannungen, Übergänge und Vermischungen – Linien, die entlang der Oberfläche verlaufen, „Flächen und Ströme: diese ergeben den Körper oder die Figur, jene das Gerüst oder den gleichmäßigen Farbgrund“. Was Deleuze hier als „Bacons Weg“ beschreibt, ist sein eigenes philosophisches Thema seit dem „Anti- Ödipus“. Bacon malt den organlosen Körper, der aus „Schwellen und Ebenen“ besteht, die von der „Sensation“ in Schwingung versetzt werden. Was man auf den Bildern sieht, ist der Rhythmus dieser Schwingungen. Es tanzt wieder. Am Ende liegt für Deleuze in dieser Engführung die Gewißheit, mit Francis Bacon, dem noch das Fleisch im Mal-Akt zerfällt, einem nahen Verwandten begegnet zu sein: „In Wahrheit sind dies in figuraler Hinsicht die natürlichsten Haltungen, wie wir sie ,zwischen‘ zwei Geschichten einnehmen, oder wenn wir alleine sind, einer Kraft ausgesetzt, die uns erfaßt.“

Gilles Deleuze: „Francis Bacon – Logik der Sensation“. Wilhelm Fink, 106 Seiten plus Bildband mit 97 teils farbigen Abb., 78 DM