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Das Rätsel des Überlebens

Dem Schrecken entkommen: Der große irische Erzähler William Trevor hat einen brillanten Thriller über eine junge Ausreißerin geschrieben  ■ Von Jörg Lau

Komisch, wenn man sich überlegt, wie die Leute zu Namen kommen, komisch, wie einem im Leben ein Platz angewiesen wird, so grübelt eine der Figuren in William Trevors Roman. Die Titelheldin Felicia ist nach einer irischen Freiheitsheldin benannt, die in ihrer Familie verehrt wird. Und dabei wird die Siebzehnjährige just von dieser Familie fast erdrückt, deren Ersatzmutter sie abgeben muß. Von einer aufrührerischen Heldin hat Felicia rein gar nichts, und mit diesem „Gesicht für eine Nonne“, über das selbst ihre Freundinnen spotten, sinken ihre Chancen auf eine Liebe, die sie aus dem familiären Dienstmädchendasein befreien könnte.

Als wir sie kennenlernen, hat Felicia allerdings doch die Flucht angetreten, und Liebe ist erstaunlicherweise auch dabei im Spiel. Felicias „Reise“ ist in Wirklichkeit ein Ausbruch, der sie nicht nur fort von ihrer Familie, sondern über die See in ein anderes Land, nach England führt. Was ist geschehen? Felicia erinnert sich an den Moment, mit dem alles anfing: „Solange sie lebt, hat Felicia sich seitdem oft gesagt, wird dieser Augenblick nie seine Bedeutung verlieren: der Rücken ihres Vaters, sein grauhaariger Kopf, als er durch die Pendeltür ging, und wie sie sich umdreht, um einen letzten Blick auf ihren Bruder und ihre Freundin in dem mit Bändern geschmückten Hochzeitsauto zu werfen, und ihr währenddessen ein Mann ins Auge fiel, der gerade vorbeiging; wie sie lächelte, weil er lächelte; wie sie sich später sagte, daß das der Augenblick gewesen ist, in dem sie gewußt hat, daß die Liebe beginnt.“

Zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch nicht viel von Felicia, aber wir ahnen bereits, daß ihre Liebe es schwer haben wird, das Glücksversprechen des Coup de foudre zu halten, mit dem sie begonnen hatte. Felicia ist mit dem Schiff über die Irische See gereist, um ihren Liebsten in einer Stadt in den englischen Midlands aufzusuchen. Sie hat die irische Kleinstadt verlassen, in der sie den Vater, die Brüder und die Urgroßmutter zu versorgen hatte, nachdem die Mutter gestorben und sie durch die Schließung der Konservenfabrik arbeitslos geworden war. Frühmorgens hat sie sich mit ein bißchen gestohlenem Geld und ein paar Habseligkeiten in zwei Plastiktüten aus dem Zimmer geschlichen, das sie mit der Urgroßmutter teilen mußte, um aus einem aussichtslosen Leben mit ihrer undankbaren Familie ins ersehnte Glück mit Johnny Lysaght, der in England lebt, zu entfliehen.

Aber dummerweise kennt sie seine Adresse nicht. Alles was sie weiß, ist, daß er in einer Stadt nördlich von Birmingham im Lager einer Rasenmäherfabrik arbeitet. Und als Felicia dann auf dem Werkgelände jener Fabrik, in der sie ihre Suche nach Johnny beginnt, von dem freundlichen Mr. Hilditch erfährt, daß „hier wirklich nirgends Rasenmäher hergestellt werden“, beginnen wir uns ernsthaft Sorgen zu machen um dieses Mädchen, das plötzlich recht verloren in der Welt steht. Die Sorgen sind, wie sich bald zeigen wird, nur allzu berechtigt, nicht nur weil Felicia von Johnny schwanger ist.

William Trevor, in der englischsprachigen Welt längst als einer der großen Erzähler berühmt, träufelt uns kaum merklich schlimme Vorahnungen ein. Könnte es sein, daß Johnny Felicia auf eine falsche Fährte gesetzt hat? Könnte es sein, daß mit diesem hilfsbereiten Mr. Hilditch etwas nicht in Ordnung ist? Und könnte es sein, daß wir uns nicht in einem sozialkritischen Melodrama, sondern in einem Thriller befinden?

Die Eleganz, mit der Trevor den Leser in diese Geschichte hineinlockt, kann man nur bewundern. Gerade glaubt man verstanden zu haben, worauf dieser Roman hinausläuft, da streut Trevor ein paar Informationen aus, die die beruhigende Stimme des Common sense verstummen lassen: Hier scheint es plözlich gar nicht um die mitleiderregende Geschichte einer unerfahrenen Ausreißerin zu gehen, sondern vielmehr um die abgründige Psychologie eines kleinbürgerlich maskierten einsamen Mannes.

Mr. Hilditch, ein dicker Herr in mittleren Jahren, der die Kantine einer Fabrik leitet, setzt alles daran, die „kleine Irin“ wiederzusehen. Er lebt in einem großen Haus, das er mit allerlei ersteigerten Antiquitäten ausstaffiert hat. Trevor hat eine unwiderstehliche Methode, unser Vertrauen in diesen allseits beliebten Mann zu erschüttern: Er häuft Indizien für seine Normalität und Harmlosigkeit. So nehmen wir an Mr. Hilditchs Gedankenstrom teil, während er Felicia nachstellt: „Leute gehen, mit Einkäufen beladen, langsam vorbei, junge Frauen, die aus Frustration ihre Kinder anschreien, und Männer, die mürrisch und schlechtgelaunt aussehen. Es gibt so viel davon, überlegt Mr. Hilditch, so viel Gewalt auf der Welt, so viel Verdrießlichkeit ... Mr. Hilditch findet das alles nicht schön.“ Beiläufig erfahren wir sodann, daß dieser ewige Junggeselle schon eine Reihe von Freundinnen gehabt hat – Sharon, Bobbie, Elsie, Gaye. Gerne denkt er daran, wie er sich mit ihnen in Imbissen und Kneipen der Gegend gezeigt hat. Warum dann aber die Regel, „sein Haus da herauszuhalten“? Und wo sind die Mädchen geblieben? Man erfährt nichts Genaues. Nun gut, das Geheimnis des Mr. Hilditch könnte sein, daß er flüchtige Affären mit Herumtreiberinnen liebt, die nicht zu seinem Lebensstil passen. Mit Felicia ist das für ihn eine andere Geschichte, denn erstmals verspürt Hilditch einen „Schauer der Erregung“, als er es endlich geschafft hat, sie in die Nähe seines Hauses zu lotsen.

Dazu ist es leider notwendig, die Geschichte über „Ada“ zu erfinden, seine Frau, die im Krankenhaus im Sterben liege. Beim Trödler hat Mr. Hilditch gebrauchte Frauenkleider gekauft, um sie im angeblichen Zimmer seiner Frau unterzubringen. Er legt ein paar Schuhe seiner verstorbenen Mutter dazu. Und während wir ihn das Bild des ehelichen Haushalts durch ein paar dekorativ auf die Wäscheleine drapierte Strümpfe abrunden sehen, verfliegen die letzten Zweifel daran, daß wir es mit einem Monster zu tun haben. Felicia braucht noch eine ganze Weile länger, um zu merken, daß sie an einen Mann geraten ist, der tötet, um nicht alleine zu sein.

Im Haltegriff des Suspense, den der Autor durch unseren Wissensvorsprung vor Felicia erzeugt, kann er mit uns verfahren wie ihm beliebt. Er füllt den Roman mit Beobachtungen des ganz banalen England nach den Thatcher-Jahren. Die Szenerie von Felicias Odyssee besteht aus Gewerbegebieten, Busbahnhöfen, Parkplätzen, Hamburgerrestaurants. Trevor führt uns zu den Obdachlosen und zu einer skurrilen Evangelisten-Sekte. Auf seine Weise ist dieses Buch voller Verlierer, die ohne jede Anbiederung beschrieben werden, ein condition of England-Roman.

Man schadet diesem wunderbaren Roman nicht, wenn man eine Pointe verrät: Felicia wird ihrem Mörder entkommen. Der Serienkiller ist hier am Ende nicht wie üblich bloßes Stilelement einer zeitgenössischen Schauerromantik, sondern der äußerste Prüfstein einer Erzählkunst, die keiner ihrer Figuren ganz und gar die Gnade verweigern möchte. Mr. Hilditch sucht den Tod, nachdem ihm (und uns) endlich die ganze Wahrheit über ihn offenbart wird. Es liegt eine gute Prise schwarzen Humors darin, wie diese Offenbarung sich wider die Absicht aller Beteiligten vollzieht, aber das hat nichts mit Koketterie oder gar Zynismus zu tun. Der Humor ist hier wie bei Hitchcock ein Mittel, um über sehr schreckliche Dinge überhaupt erträglich reden zu können, eine Art Schutzmaske, die die Annäherung an das radikal Böse erlaubt.

Zuletzt, in einer weiteren kühnen Volte, wechselt Trevor noch einmal die Perspektive. Nicht die Bosheit des Mr. Hilditch ist das Mysterium der letzten Seiten, sondern Felicias Fähigkeit, trotz ihrer Verwundbarkeit den Schrecken zu überleben und sich dabei eine rätselhafte Unversehrtheit und Unschuld zu erhalten.

Am Ende hat Felicia nichts. Keine Familie, keine Freunde, keinen Beruf, kein Dach über dem Kopf, und selbst ihr Kind hat sie verloren. So überflüssig wie sie ist kein Mensch auf der Welt. Schwer, davon zu reden, ohne kitschig zu werden. William Trevor kann es.

William Trevor: „Felicias Reise“. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Rotbuch Verlag, 270 Seiten, geb., 38 DM

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