Und immer ein jähes Ende

Wo Claus Volkmann Ghetto-Chef war: Erinnerungen an Kolomea und die unruhige Geschichte jüdischen Lebens in der Bukowina  ■ Von Edgar Hilsenrath

Im Jahre 1772 marschierten österreichische Truppen in Polen ein und besetzten die Provinz Galizien. Eines der Zentren jüdischen Lebens in Galizien war die Grenzstadt Kolomea. Meine Verwandten in Kolomea jubelten, als die Österreicher in die Stadt einrückten, bedeutete das doch die Befreiung vom polnischen Joch. König Kasimir hatte im Mittelalter die Juden ins Land geholt. Sie sollten den Handel wieder in Schwung bringen, kurz, das gesamte Wirtschaftsleben des maroden polnischen Staates wieder beleben. Die Juden erhielten alle Privilegien, durften sich frei bewegen und ihre Religion ausüben. Die Juden fühlten sich wohl in Polen.

Einige Jahrhunderte ging das gut. Aber dann kam es zu Reibungen. Die merkwürdigen Sitten und Gebräuche der Juden erregten Spott und Mißtrauen unter den Polen. Die Polen hatten keinen Mittelstand. Den Mittelstand bildeten die Juden. Sie waren die Vermittler zwischen Arbeitern und Bauern und den adeligen Grundbesitzern. Der Haß der Mittellosen richtete sich aber nicht gegen den Adligen, der sie ausbeutete, sondern gegen den Juden, der den Adligen vertrat und dessen Geschäfte erledigte. In Kolomea schlichen polnische Arbeiter und Bauern um die jüdischen Gebetshäuser herum und lachten oder schüttelten drohend die Fäuste, weil die Geräusche, die aus den Gebetshäusern kamen, unheimlich wirkten, mystisch und bedrohlich. Juden wurden oft angepöbelt, auf offener Straße verprügelt und beschimpft.

Aber nicht nur das gemeine Volk haßte den Juden. Auch die Adligen haßten ihn, weil sie die Konkurrenz fürchteten. Die bestechlichen polnischen Beamten beuteten den Juden aus, weil sie vor den Adligen Angst hatten, beim gemeinen Volk nichts zu holen war, der Jude dagegen eine unerschöpfliche Geldquelle war. Ein gefährlicher Antisemitismus breitete sich aus, der von Jahr zu Jahr zunahm. So war es kein Wunder, daß die Österreicher wie ein Geschenk vom Himmel von den Juden begrüßt wurden.

Im Jahre 1774 rückten die österreichischen Truppen weiter vor und besetzten das benachbarte Moldaufürstentum, zu dem auch die Provinz Bukowina gehörte. Die Bukowina war ein verwahrlostes Land, es hatte nicht einmal eine richtige Hauptstadt. Die Österreicher bauten das Land auf und gründeten eine richtige Hauptstadt mit dem Namen Czernowitz, die Stadt am linken Pruthufer. Hunderttausende von Juden aus dem benachbarten Armenhaus Galizien strömten über den Pruth und begannen, die Bukowina zu bevölkern. Sie trugen auch zum wirtschaftlichen Aufschwung dieses kleinen Ländchens bei.

Meine Verwandten in Kolomea spannten oft die Pferdekutsche ein und fuhren den Pruth entlang bis Czernowitz, einerseits weil sie mal eine richtige Großstadt sehen wollten, andererseits um teure Stoffe zu kaufen und andere Luxusartikel. Sie pflegten zu sagen: „Es ist nur ein Katzensprung von Kolomea nach Czernowitz.“ Dieser Zustand aber nahm ein jähes Ende, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Österreich war geschlagen und mußte sich aus den polnischen Gebieten und dem Moldaufürstentum zurückziehen. Kolomea wurde wieder polnisch und das benachbarte Czernowitz rumänisch.

Beide Städte wechselten noch mehrmals ihre Herren. 1939 zogen die Russen in Kolomea ein und besetzten kurz darauf auch Czernowitz. Die Russenherrschaft war hart. Tausende der wohlhabenden Juden in Kolomea und Czernowitz wurden nach Sibirien deportiert, und die Bevölkerung lebte in Angst und Schrecken. Aber auch die Russenherrschaft ging zu Ende, als 1941 die Deutschen einmarschierten. Wer geglaubt hatte, die Deutschen kämen als Befreier, hatte sich getäuscht. Mit den Deutschen fing die Schreckensherrschaft erst richtig an.

Ich wohnte damals auf der anderen Seite des Pruth in der Bukowina, nahe der polnischen Grenze, also nur wenige Kilometer von Kolomea entfernt, und zwar in dem jüdischen Städtchen Sereth. Wir wußten nicht, wie es meinen Verwandten unter den Deutschen in Kolomea erging. Aber es drangen Schreckensnachrichten zu uns. Man sprach von einem Ghetto, das die Deutschen errichtet hatten, von Hunger und Not und Hinrichtungen. Genaues wußten wir nicht. Zumal hatten wir unsere eigenen Sorgen, denn im Oktober 1941 beschloß die faschistische Regierung Rumäniens, die mit Hitler verbündet war, alle Juden aus der Bukowina und aus Bessarabien nach der Ukraine zu deportieren.

Wir wurden in die Nachbarstadt Radautz gebracht, dort in Güterwagen verfrachtet und deportiert. Zuerst ging es nach Czernowitz, dann durch Bessarabien bis zum Dnjestr. Am Dnjestr wurden wir ausgeladen und in Flössen – da die Brücken gesprengt waren – über den Fluß geschifft, in die ukrainische Ruinenstadt Moghilew-Podolsk. Die Rumänen hatten dort ein Ghetto für die Juden errichtet. In dieses Ghetto wurden wir gepfercht.

Transporte, die nach uns eintrafen, wurden weiter geschickt bis tief in die Ukraine. Die Russen hatten sich aus dem Gebiet zurückgezogen und es den nachstoßenden deutschen und rumänischen Truppen überlassen. Im Vertrag von Tiraspol hatte Hitler den rumänischen Verbündeten das Gebiet zwischen den Flüssen Dnjestr und Bug überlassen. Jenseits des Bug standen die Deutschen. Die Rumänen schickten einige Judentransporte über den Bug, die gleich von der SS liquidiert wurden. Bei uns zirkulierte das Gerücht: Wer über den Bug abgeschoben wird, wird erschossen.

Wir waren froh, daß wir in Moghilew-Podolsk bleiben konnten, waren wir doch wenigstens vor dem Erschießen verschont. Bei uns im Ghetto herrschten Hunger und Typhus. Nur mit Not konnten wir uns die notwendigen Lebensmittel auf dem Schwarzmarkt verschaffen. Jeden Tag konnte man die Verhungerten, Erfrorenen und an Typhus Gestorbenen frühmorgens auf der Straße zählen. Dieser Zustand dauerte bis März 1944, als die Russen zurückkamen und das Gebiet überrannten. Sie brachten uns Juden die Befreiung. Wir konnten wieder nach Hause gehen und wanderten zu Fuß durch Bessarabien zurück in die Bukowina.

Wir fanden unser Haus wieder. Das Städtchen war zum größten Teil zerstört. Erst nach unserer Rückkehr erfuhren wir, was mit unseren Verwandten in Kolomea geschehen war. Die meisten waren im Ghetto verhungert. 1.200 wurden von den Deutschen im Wäldchen von Szeparowce erschossen, die Prominenz, der Rest nach dem Todeslager Belzec deportiert. Von den 30.000 Einwohnern hatte man fast alle liquidiert. Nur wenige überlebten. Das deutsche Oberkommando meldete: „Kolomea ist judenrein.“

Der Mann, der mitverantwortlich war und sogenannter Chef des Ghettos, Claus Volkmann, tauchte nach dem Krieg unter und nannte sich Peter Grubbe. Er arbeitete in der Bundesrepublik als freier Journalist für stern, Welt, Sonntagsblatt und viele andere Zeitungen, gab sich linksliberal und demokratisch gesinnt. Der Chef des stern, Henri Nannen, behauptet Grubbe, kannte seine wahre Identität, aber schwieg und verriet ihn nicht. Warum wohl? Peter Grubbe ist heute 82 und lebt ein friedliches Leben in seinem Haus nördlich von Hamburg in Lütjensee in Schleswig-Holstein. Wird es jemals eine gerechte Strafe für ihn geben?