„Mörder“-Rufe für den rasenden Sonnyboy

■ Nach seinem Siegtor im Champions-League-Finale war Ajax-Stürmer Patrick Kluivert (19) der große Held, Wochen später verursachte er einen tödlichen Unfall

Amsterdam (taz) – Im Zentrum der Grachtenstadt glühen wie jeden Abend rund um den Leidseplein die Reklamelichter der Restaurants und Cafés. Gaukler jonglieren mit Feuer, die unvermeidliche peruanische Volksmusik dröhnt über den Platz. Tramhaltestellen und Schaufensterscheiben sind wieder heil, nachdem im Sommer sogenannte Ajax-Fans nach dem 1:0 im Champions-League-Finale über den AC Mailand den beliebtesten Flanierplatz der Amsterdamer verwüstet hatten. Die jungen Ajax-Stars mit Wurzeln in Surinam, wie Davids, Wooter oder Bogarde, sind hier oft im Café Raffle zu finden, vor dem sich meist lange Reihen sehnsüchtiger Teenie-Mädchen versammeln. Die meisten warten auf „Patrick“. Der fröhliche Patrick Kluivert war, glaubt man den einschlägigen Hochglanzblättern, zumindest bis vor kurzem der Traum der meisten „Meisjes“ unter 18. Doch seit dem 9. September sieht das Leben von Patrick Kluivert anders aus. Wenn er die Stadien betritt, höhnen ganze Blöcke „Mörder, Mörder, Mörder!“

Ajax-Trainer Louis van Gaal ortete wütend nach jedem der diesjährigen Zu-Null-Siege Verschwörungen gegen seine Elf – und vor allem gegen Patrick Kluivert. Schäbig sei es, was die Journalisten mit dem Jungen machen würden. Natürlich habe er einen großen Fehler gemacht, aber „hängen“ dürfe er dafür nicht. Der Fehler: Am 9. September hatte Kluivert am Steuer seines Autos einen Unfall verursacht, bei dem der Theater-Mann Marten Putman (56) ums Leben kam. Putmans Frau liegt noch immer schwer verletzt im Krankenhaus. Kluivert droht nun eine Gefängisstrafe bis zu drei Jahren. Die jungen Ajax-Spieler sind in die Zwickmühle von Sponsoren, Medien und lockerem Leben geraten – geschmiert mit viel Geld. Kluivert verdiente in der letzten Saison an Europapokal- Prämien etwa eine halbe Million Mark. Nach seinem Siegtreffer gegen Milan in Wien war er obenauf. Seine Mutter, tief katholisch und in Surinam geboren, hatte ihn tränenüberströmt vom Flugzeug abgeholt, die nächsten Tage waren beide Dauergäste in den Talkshows. Hatte sie nicht vom lieben Gott eine Nacht vor dem Spiel einen Hinweis bekommen, daß ihr Sohn das 1:0 schießen würde? Für soviel Glauben wurde sie zunächst bewundert, dann auch schon mal in Karikaturen verspottet – wogegen sie dummerweise klagte.

Den Jungen aus der stinknormalen Naardermeerstraat in Amsterdam-Nord kannte vor einem Jahr kaum ein Mensch, dann schoß er zunächst in der Meisterschaft ein Tor nach dem anderen, dann dieser unglaubliche Finalabend von Wien und das anschließende zweitägige Straßenfest in Amsterdam. Patrick Kluivert stand im offenen Ajax-Bus und jubelte glücklicher und ausgelassener als alle anderen den Massen zu, das Schauspiel wurde noch von der späteren Grachtenrundfahrt überboten.

Kluivert machte den Führerschein, das Auto bekam er vom Verein, der wie Feyenoord Rotterdam und PSV Eindhoven von Opel gesponsert wird. Die holländischen Sportler fahren offenbar gern schnell, so schnell, daß das Nationale Olympische Komitee seine Athleten kürzlich mit klitzekleinen Polos ausstattete. Die bis dahin üblichen Audi 80 waren in Rekordtempo zerlegt worden. Bei Feyenoord ist das Klubpräsidium betreffs der Fahrkünste so verunsichert, daß die Kotflügel monatlich kontrolliert werden.

Alkohol getrunken hatte Kluivert bei dem tödlichen Unfall nicht, gab aber sofort zu, daß er zu schnell gefahren sei. Danach verharrte der Verein im Schockzustand. Die sich gierig auf die Sache stürzenden sieben TV-Sender der Niederlande leben mit ihren Spekulationen seit Wochen ebenso von der Spracharmut rund um den Fall Kluivert wie die Klatsch- und Boulevardblätter. Aus dem Ajax- Präsidium murmelte es heraus, daß es „Maßnahmen“ gegen Patrick Kluivert gegeben habe. Genutzt haben sie offenbar nicht viel. Am 25. September, ausgerechnet dem Tag der Beerdigung von Marten Putman, wurde Kluivert von der Polizei gestoppt – er war viel zu schnell über eine Kreuzung gerast. Es war der Tag, an dem er das erste Mal seit der Todesfahrt wieder gespielt hatte – für die Ajax-Reserve gegen die zweite Mannschaft Feyenoords.

Seitdem schießt er zwar wieder Tor um Tor für Ajax Amsterdam, aber alles deutet darauf hin, daß er den Verein und das Land bald verlassen wird. Die „Mörder“-Rufe der böswilligen Fans gegnerischer Teams, die Ajax-Coach van Gaal monatelang mit Sprechchören über den Krebstod seiner Frau gequält hatten, werden in nächster Zeit kaum verstummen. Auf Patrick Kluivert müssen die Mädchen vom Café Raffle künftig wohl vergebens warten. Falk Madeja