Kunstwerk Fernsehschrott

■ Ostdeutsche Kinder und die Medien: Dem Fernsehen rettungslos verfallen?

Kinder können fernsehen, behaupten Vertreter einer fortschrittlichen Medienpädagogik. Ben Bachmair, Hochschullehrer für Erziehungswissenschaften in Kassel, glaubt sogar, daß selbst minderwertige TV-Sendungen für Kinder noch etwas Positives haben: weil sich die Kleinen „Kunstwerke aus Fernsehschrott“ bauten.

Tatsache aber ist, daß viele Eltern die Fernsehfixiertheit ihrer Kinder mit Unbehagen verfolgen. Gerade in Ostdeutschland scheinen die Zahlen zum Sehverhalten zu belegen, daß dieses Unbehagen angebracht ist. Denn wie ihre Eltern, widmen dort auch die Kinder und Jugendlichem dem TV-Programm mehr Zeit als gleichaltrige ZuschauerInnen im Westen: Bei den Drei- bis 13jährigen sind es 16 Minuten (89 Minuten im Westen, 105 im Osten), bei den 14- bis 19jährigen fast 30 (im Westen sank der TV-Konsum trotz Privatfernsehens von 96 Minuten 1985 auf derzeit 89 Minuten ab; im Osten, wo erst seit 1992 gemessen wird, liegt er bei rund 120 Minuten).

Bei solchen Zahlen sind Klischees rasch gezimmert. Jugendliche im Osten sind dem Fernsehen verfallen, heißt es dann, oder auch: Medienpädagogik ist im Osten ungleich dringlicher als im Westen. Stimmt gar nicht, sagt ein Medienwissenschaftler wie Bernd Schorb geradeheraus. Denn der Grund für den erhöhten Medienkonsum ist nicht etwa eine Mentalitätsfrage, sondern läßt sich leicht erklären.

Beispielsweise gibt es zwischen West- und Ostdeutschland deutliche Unterschiede in den Siedlungsformen. Während im Westen die meisten Menschen in Ballungsgebieten wohnen, dominieren im Osten kleine und mittlere Städte. Das Freizeitangebot dort hält sich im Rahmen, die letzten Kinos mußten schon kurz nach der Wende den wie Pilze aus dem Boden schießenden Videotheken weichen (die nicht selten in den Räumen früherer Jugendklubs zu finden sind). Außerdem ist Freizeit in der Regel teuer; ostdeutschen Jugendlichen aber steht deutlich weniger Taschengeld zur Verfügung als den Gleichaltrigen im Westen. Das preiswerte Fernsehen schließt diese Lücke, zumal nahezu alle neuen Bundesländer überdurchschnittlich gute TV-Empfangsmöglichkeiten aufweisen. In Thüringen beispielsweise verfügt ein Haushalt, sei es per Kabel oder Satellit, über rund 25 TV-Kanäle.

Selbstverständlich hat höherer TV-Konsum auch soziale und psychologische Ursachen. Je unzufriedener Menschen mit ihrer sozialen Situation sind (die Arbeitslosenzahlen etwa in Thüringen gehören zu den höchsten in Deutschland), desto eher sind sie bereit, dies mit Hilfe des Fernsehens zu kompensieren. Hinzu kommt eine ganz natürliche Sehnsucht nach Orientierungspunkten. Gerade im Osten sind die Dinge nach wie vor im Fluß; das ritualisierte Fernsehen mit seinen täglichen Fixpunkten zwischen „Hans Meiser“, „Tagesschau“ und Spielfilm bietet da eine gewisse Form von Stabilität. Auch die Frage, warum ARD und ZDF in Ostdeutschland in der Gunst des Publikums so weit abgeschlagen sind, kann leicht beantwortet werden: Die Ostdeutschen finden sich und ihre Probleme im öffentlich- rechtlichen Fernsehen nicht wieder, weshalb sie ihm gleich ganz den Laufpaß geben.

Zwar geben die Medienpädagogen nicht unbedingt Entwarnung, relativieren die Problematik jedoch. Medienpädagogik sei schon allein deshalb im Osten nicht dringlicher, weil hier ein Prozeß innerhalb kürzester Zeit ablaufe, der im Westen immerhin zehn Jahre gedauert habe (so erreichten ostdeutsche Haushalte innerhalb von nur drei Jahren das Versorgungsniveau des Westens mit Videorekordern und Computern).

Ohnehin empfindet es zum Beispiel der Medienpädagoge Stefan Aufenanger bereits als diskriminierend, den Ostdeutschen zu unterstellen, sie seien dem Fernsehen hilflos ausgeliefert. Zunächst einmal sollte man doch davon ausgehen, daß Familien kompetent mit dem Fernsehen und anderen Medien umgehen können; erst wenn dies offenbar nicht der Fall sei, könne diesen Familien Hilfe angeboten werden – und zwar nicht in der Form, daß das Fernsehen verteufelt werde. Abgesehen davon schätzt Aufenanger das Fernsehen als Katalysator, weil es bestimmte innerfamiliäre Spannungen überhaupt erst deutlich werden lasse.

Und natürlich wehren sich auch die Sender zu Recht dagegen, daß das Fernsehen immer wieder als Sündenbock für gesellschaftliche Mißstände herhalten muß, schließlich gehen Modernisierungen stets und vor allem zu Lasten der Kinder. Treffpunkte für Jugendliche werden geschlossen, Jugend- und Kulturzentren leiden unter Etatkürzungen, Spielplätze können nicht mehr gepflegt werden, und der angeblich garantierte Kindergartenplatz bleibt Utopie, was gerade im Osten umso mehr bedauert wird, als hier diese Utopie zu DDR-Zeiten Realität gewesen ist.

Wenn man also, wie viele Politiker dies tun, behauptet, die Medien seien die Hauptursache aller möglichen gesellschaftlichen Mißstände, macht man sich (absichtlich?) der grob fahrlässigen Vereinfachung eines komplexen Sachverhalts schuldig. Ein gutes Beispiel hierfür ist die kindliche Aggressivität. Wer hier als Schuldigen das Fernsehen vermutet, denkt zu kurz: Kindliche Aggressivität ist keine direkte Folge gewalthaltiger TV-Sendungen, sondern ein Spiegelbild des kindlichen Lebensalltags, in dem das Fernsehen ebenso eine Rolle spielt wie die Atmosphäre im Elternhaus, der Leistungsdruck in der Schule und die gleichaltrigen Bezugspersonen. Tilmann P. Gangloff